Es gab regelmäßig Schnee, der oft monatelang liegen blieb und uns Kindern das Schlittenfahren in der Inneren Stadt ermöglichte. Es gab extra abgesperrte Rodelstraßen, wie zum Beispiel die Renngasse, auf der wir von der Wipplingerstraße bis zum Börseplatz rodelten und ganz schöne Geschwindigkeiten erreichten. Lag noch mehr Schnee, konnten wir die Stiegen von der Kirche Maria am Gestade hinunterrodeln. Hier ging es noch schneller. *** So beschreibt Rudolf Orlik , Jahrgang 1942, die Winter im Wien seiner Kindheit. „Ich habe ein gutes Erinnerungsvermögen und sehe alles noch plastisch vor mir“, erzählt er. Aufgewachsen am Judenplatz in der Inneren Stadt („mehr in der Mitte der Stadt geht nicht“), erlebte er, wie sehr sich Wien im Lauf von acht Jahrzehnten veränderte. Er begann, seine Beobachtungen aufzuschreiben. „Irgendwann habe ich mir gedacht, daraus muss ein Buch werden, und habe einen Verlag gesucht.“ Nun sind seine Aufzeichnungen unter dem Titel „Wien ist anders geworden“ erschienen. Seine frühesten Erinnerungen an seine Kindheit? „Die Stadt, in die ich hineingeboren wurde, war zerstört und zerbröselt“, erzählt Orlik im Gespräch mit dem KURIER. Nichtsdestotrotz habe er auch schöne Erinnerungen an diese Zeit: „Mein Opa hat eine Mischung aus Slowakisch und Wienerisch gesprochen. Er hat bis an sein Lebensende ,gebemakelt‘“, beschreibt er und lacht. „Die Oma wiederum konnte nicht schreiben, aber sehr gut kopfrechnen. Das war wichtig im Gemüsegeschäft, in dem sie und meine Eltern gearbeitet haben.“ Kreid Johanna Rudolf Orlik, Jahrgang 1942, ist in Wien in der Inneren Stadt aufgewachsen. Die Liebe zum Lesen und Schreiben Orlik entdeckte im Gymnasium seine Liebe zum Schreiben, sein Deutschlehrer ließ ihn seine Aufsätze vor der Klasse vortragen. Auch das Lesen wurde seine Leidenschaft: „Früher war es ja normal, dass man in der Früh mehrere Tageszeitungen gelesen hat.“ Beruflich war er im Verkauf und bei einer Versicherung tätig. Aber auch Geschichte habe ihn immer interessiert. Daher habe er sich auch entschlossen, seine Version der Geschichte Wiens niederzuschreiben: „Ich möchte die Leser damit informieren, nicht indoktrinieren“, betont er. „Und zwar auf lustig – sonst ist es ja fad.“ Und er wolle keineswegs sagen, dass „früher alles besser“ war. „Es war einfach anders. So ist das Leben: Es ändert sich, es bleibt nie stehen.“ Aufwachsen im Wien der Nachkriegszeit So erzählt Orlik in seinem Buch etwa über die Zeiten des Mangels nach dem Krieg. Wenige Geschäfte waren heil geblieben , schreibt er. Die Auslagen waren gähnend leer. Die Leute hatten den ganzen Tag das Radio laufen, um ja nicht den Aufruf zu versäumen, der die nächste Nahrungsmittelration ankündigte , heißt es weiter. Schon in den Nachtstunden bildeten sich Menschenschlangen, um vielleicht ein etwas besseres Stück zu ergattern . Erst nach Jahren der Entbehrung füllten sich die Wiener Kaufhäuser wieder: Das Rolltreppenfahren war Lieblingsbeschäftigung der Kinder, die Bonbonabteilung bevorzugtes Ziel . Von Vierteltelefonen und Hausmeistern Unter anderem schreibt Orlik über das Vierteltelefon ( man musste schnell sein, es gab ja noch Mitbenützer ), die gestrengen Hausmeister ( jeder Fehler der Hausordnung wurde mit tadelnden Worten angeprangert ) oder über die Abgase der Autos, die einst die Stadtluft verschmutzten ( es war die Hölle ). Ganz anders lebe es sich im Wien von heute – in Zeiten der U-Bahn, der Fußgängerzonen und der Smartphones, wo Einkäufe oft nur noch mit ein paar Klicks vom Sofa aus erledigt werden. Ein Kuriosum namens Schule Einen Bereich gebe es jedoch, in dem sich erstaunlich wenig verändert habe, so Orlik in seinem Buch: Das Kuriosum ist, dass in den Schulen alles gleich geblieben ist. Außer dem Verbot der Züchtigung sind die Abläufe gleich, nur die Benennung derselben hat sich geändert . Das Fazit des Hobbyautors? Aus einem Trümmerhaufen wurde eine Perle. Ich selbst habe diese Wandlung von einer düsteren und grauen Stadt zu einer hellen, grünen Hauptstadt eines begnadeten Landes erlebt , formuliert es Orlik. Ob sein Buch „Wien ist anders“ auch eine Liebeserklärung an die Stadt ist? Möglicherweise, erwidert Orlik. Jedenfalls sei Wien für ihn die schönste Stadt der Welt – und er selbst sei sicherlich eines: ein „unheilbarer Wiener“. Verlag Berger Rudolf Orlik: „Wien ist anders geworden. Kurzgeschichten“, Verlag Berger. 244 Seiten. 19,90 Euro.