Freispruch trotz SOS-Handzeichens: "Betroffene haben Angst vor Konsequenzen"

Ein mehrfach vorbestrafter Mann soll in Wien seine Ex-Partnerin und zwei Kinder bedroht und in seinem Auto festgehalten haben – so lautete der Vorwurf in jenem Fall, der durch das SOS-Handzeichen des sechsjährigen Mädchens publik wurde. Zudem führte der gebürtige Iraker Messer im Auto mit, auch lag gegen ihn ein aufrechtes Annäherungsverbot vor. Beim Gerichtsprozess am Dienstag wurde der 39-Jährige jedoch freigesprochen. Der KURIER berichtete. Die Richterin selbst sagte bei der Urteilsverkündung: "Ich habe Sie nicht freigesprochen, weil ich Ihnen glaube, doch der Gesetzgeber gibt mir keine andere Möglichkeit. Ich halte Ihre Aussagen für absolut unglaubwürdig." Wieso trotzdem der Freispruch? Die Ex-Partnerin des Mannes machte als Zeugin von ihrem Aussageverweigerungsrecht , dem sogenannten Entschlagungsrecht , Gebrauch. Auch die Tochter wollte beim Prozess keine Fragen beantworten – womit nur die Aussagen des Mannes schlagend wurden. Das Urteil ist rechtskräftig. Warum sich Gewaltopfer generell immer wieder dazu entschließen, vor Gericht nicht auszusagen, welche Symbolwirkung das Urteil in diesem Fall haben könnte und warum die Arbeit mit Tätern so wichtig ist, erklärt Karin Gölly , Bundesverbandsvorsitzende der österreichischen Gewaltschutzzentren . KURIER: Das Urteil in diesem Fall hat ziemlich polarisiert, insbesondere, wenn man den Kommentar der Richterin bei der Urteilsverkündung bedenkt. Wie kann es zu so einem Freispruch kommen? Karin Gölly : Wenn sich die mutmaßlichen Opfer bei einer gerichtlichen Einvernahme der Aussage entschlagen, dann darf das, was sie zuvor bei der Polizei gesagt haben, nicht mehr verwertet werden. In diesem konkreten Fall war es offenbar so, dass es ausschließlich die Zeugenaussagen des Mädchens und der Ex-Partnerin gab und keine unbeteiligten Dritten Beobachtungen gemacht hatten. Sprich, man hatte lediglich die Aussagen der Opfer bei der Polizei und die leugnende Verantwortung des Aggressors vor Gericht – und damit gibt es dann keine Möglichkeit einer Verurteilung. Wenn es sonst keine Beweismittel gibt, muss es zu einem Freispruch kommen. Bei dem Verfahren wurden auch Polizeibeamte befragt, die vor Ort auf das SOS-Handzeichen des Mädchens aufmerksam geworden waren und auch das Verhalten des Mannes beschrieben. Waren deren Einschätzungen der Situation zu wenig für eine Verurteilung? Ich denke, dass diese Schilderungen nicht genug strafrechtliche Relevanz hatten, an die man hätte anknüpfen können. "Kontrollierendes Verhalten" hat im Strafrecht nicht genug Gewicht, außer es geht in Richtung Stalking. Aria Sadr-Salek Karin Gölly, Bundesverbandsvorsitzende der österreichischen Gewaltschutzzentren. "Opfer wollen oft nur, dass die Gewalt endet" Stichwort Entschlagungsrecht: Kommt es oft vor, dass Frauen und Kinder vor Gericht die Aussage gegen Gewalttäter verweigern – und wenn ja, warum? Das erleben wir in der Praxis immer wieder. Ein Grund ist sicher, dass Betroffene Angst vor den Konsequenzen haben, wenn sie eine Aussage tätigen. Opfer haben oft gar nicht den Anspruch, dass es irgendeine Vergeltungsmaßnahme gibt für das, was ihnen angetan wurde. Sie wollen einfach nur, dass die Gewalt aufhört. Wir erleben sogar, dass Opfer sich vor der Anzeigenerstattung mitunter Gedanken machen über die Strafdrohung für das Delikt, das sie anzeigen möchten. Sprich, dass sich die Opfer eher Gedanken machen über die strafrechtlichen Konsequenzen als die Täter. Welche Rolle spielen die Emotionen bei Gewaltvorfällen? Man darf nicht außer Acht lassen, dass oft eine emotionale Bindung oder vielleicht auch emotionale Abhängigkeit herrscht, sei es zum Kindesvater oder zum Partner, wodurch man in einen Loyalitätskonflikt gerät. Es macht einen großen Unterschied, ob mir Gewalt durch eine mir unbekannte Person angetan wird – da verständige ich sofort die Polizei, ohne den Aggressor in irgendeiner Weise zu schonen. Wenn das aber ein Familienangehöriger, ein aktueller oder Ex-Partner ist, dann ist das eine völlig andere Situation. Hier eine Aussage zu machen, ist für Betroffene oft unglaublich schwer. Hinzu kommt der zeitliche Faktor, den man nicht vergessen darf. Inwiefern? Wir wissen, dass häusliche bzw. partnerschaftliche Gewaltdynamiken auf bestimmte Arten ablaufen: Man nennt das den "Gewaltkreislauf" . Das heißt, es gibt Phasen mit Eskalationen, dann aber wieder eine der Entspannung oder Harmonisierung. Die nennt man sogar "Flitterwochenphase": Das Opfer glaubt, der Aggressor wird sich ändern, es gibt vielleicht auch Beteuerungen des Gefährders und man ist geneigt, diesen zu glauben. Manchmal glaubt auch der Gefährder, dass es ihm gelingt, sich zu verändern. Das Problem: Wird er dabei nicht professionell begleitet und unterstützt, funktioniert das in der Regel nicht. Wenn dann eine Gerichtsverhandlung Wochen oder Monate nach dem Vorfall stattfindet, kann es sein, dass die Beziehung in der Zwischenzeit schon in eine andere Phase eingetreten ist. Mit Gewalttätern zu arbeiten schützt Opfer Selbst wenn ein Gewalttäter verurteilt wird, kann es nur zu einer bedingten Strafe kommen und er bleibt auf freiem Fuß. Ist eine Verurteilung manchmal gar nicht der bessere Ausgang für Gewaltopfer? Eine bedingte Verurteilung bedeutet, dass die reale Gefährdung nach wie vor da ist – denn eine Verurteilung heißt nicht automatisch, dass die Gewalt endet. Wir erleben auch immer wieder, dass Täter bei einer bedingten Verurteilung diese als solche gar nicht registrieren und meinen, es sei "eh nicht so schlimm" gewesen, was sie getan haben. Dass es dabei eine Probezeit gibt, scheinen einige Täter nicht richtig zu registrieren. Stattdessen erleben sie: "Ich habe jetzt unmittelbar keine Konsequenz zu spüren, ich muss nicht in Haft, ich muss keine Geldstrafe bezahlen." Kann eine Anzeige allein eine abschreckende Wirkung haben? Die Anzeige ist ja notwendig, damit es überhaupt zum Gerichtsverfahren kommt. Manchmal kann sie tatsächlich abschrecken, das kennen wir zum Beispiel von Stalking-Fällen – da manchen Stalkern vorher gar nicht bewusst war, dass das, was sie tun, bereits strafrechtliche Relevanz hat. Falls die beiden Personen weiterhin zusammenleben, wird die Anzeigenerstattung in der Regel nicht viel verändern, sie kann die Situation vorübergehend sogar verschlechtern. Daher betonen wir im Opferschutz immer wieder, wie wichtig es ist, mit Tätern zu arbeiten: Dass es zum Beispiel eine verpflichtende Weisung für ein Antigewalttraining gibt, um effektiv und präventiv zu arbeiten. Was in diesem konkreten Fall natürlich nicht passiert ist. Richtig, bei einem Freispruch gibt es keinerlei gerichtliche Auflagen. Ein "Trost" ist vielleicht, dass die Betreuung durch Opferschutzeinrichtungen nach einem Urteil nicht beendet ist, Betroffene bekommen auch danach weiter Unterstützung: Man wird mit ihnen Sicherheitspläne erarbeiten, gegebenenfalls ein polizeiliches Betretungs- und Annäherungsverbot verlängern. Zudem gibt es im Zivilrechtsbereich Möglichkeiten, Schutz zu erhalten. Auch die Kinder- und Jugendhilfe wird aktiv werden, um eine Gefährdung der Kinder zu verhindern. Ich gehe davon aus, dass die Behörden hier dranbleiben werden. Welche Signalwirkung kann so ein Prozessausgang auf Frauen haben, die ebenfalls von Gewalt betroffen sind? Als Gesellschaft und als Außenstehende haben wir natürlich das Bedürfnis, dass so ein Verhalten geahndet wird. Letztlich haben die Opfer es aber selbst in der Hand, ob sie eine Aussage machen wollen oder nicht. Eine positive Botschaft in diesem Fall war meiner Meinung nach: In einer akuten Situation ist geholfen worden, die Polizei hat ja sehr schnell und richtig reagiert. Und es war in dem Fall auch wichtig, dass die Richterin selbst gesagt hat, dass sie dem Angeklagten nicht glaubt – aber aus rechtlichen Gründen eben so entscheiden musste. Blicken wir noch einmal ins Strafrecht: Verorten Sie da vielleicht Lücken, durch die ein Prozess so ausgehen konnte, wie er eben ausgegangen ist? Ich würde nicht empfehlen, das Entschlagungsrecht zu verändern, denn es ist wichtig, dass Betroffene sich entschlagen können, wenn sie das möchten. Die Frau wird in diesem Fall über alle etwaigen Konsequenzen und allen Dimensionen einer Aussage rechtlich aufgeklärt worden sein. Wenn eine Entschlagung für sie die bessere Lösung war, müssen auch wir als Gesellschaft das akzeptieren. Man kann sich gar nicht vorstellen, in welch schwieriger Situation Betroffene von Gewalt sind, welche Ängste sie haben. Auch weiß man als Außenstehender nicht, ob nicht vielleicht Drohungen im Hintergrund ausgesprochen wurden. Es ist daher sehr wichtig, dass man hier keinen Vorwurf an Opfer transportiert. >> Mehr lesen rund um Gewalt gegen Frauen.