Schrille Nacht: Wie der Advent zur lautesten Zeit des Jahres wurde

Der stillste Ort der Welt liegt in Minneapolis. Das Orfield Labor im Süden der US-amerikanischen Stadt beherbergt eine schalltote Kammer, in der die Hintergrundgeräusche in negativen Dezibel gemessen werden – also unterhalb der Hörschwelle des menschlichen Gehörs liegen. Das Einzige, was man hier hört, ist man selbst: den Herzschlag, das Blinzeln der Augenlider und das Blut, das durch die Venen rauscht. In einer von Dauerbeschallung beherrschten Welt ist Stille die absolute Ausnahme. Es klingelt, rauscht und dudelt überall. Besonders in der Vorweihnachtszeit. Menschen drängen durch die Einkaufsstraßen, die immer gleichen Weihnachtslieder hallen durch die Geschäfte, und das Verkehrsaufkommen erreicht seinen Höhepunkt. Kurier-Grafik „Weihnachten ist eine der lautesten Zeiten überhaupt“, sagt Hans-Peter Hutter , Umweltmediziner an der Medizinischen Universität Wien. Dies hat Auswirkungen auf den gesamten Organismus. „Es beeinträchtigt unser Gedächtnis, die Aufmerksamkeit nimmt ab und insgesamt unser Wohlbefinden“, sagt Hutter. Umweltlärm verringere unser Stressverarbeitungspotenzial, und je länger er anhalte, desto höher werde die Frustration. Der Umweltmediziner beschäftigt sich schon lange mit dem Thema und ist immer wieder erstaunt, wie komplex sich Lärm auf uns auswirke. Neben Effekten auf Hormonhaushalt, Blutdruck und Stoffwechsel sowie die Schlafqualität gibt es nämlich auch soziale Komponenten. So habe eine Untersuchung gezeigt, dass die Hilfsbereitschaft in stark lärmbelasteten Gebieten abnehme, sagt er. „Lärm wird extrem unterschätzt.“ Die größte Lärmquelle Hauptursache ist der Verkehr . Laut Statistik Austria und Verkehrsclub Österreich (VCÖ) fühlt sich jeder dritte Österreicher von Verkehrslärm belastet – der Großteil durch Autos, Lkw, Busse und Mopeds. Mit 36,3 Prozent sind die Niederösterreicher am stärksten betroffen. Dabei gebe es viele Wege, entgegenzusteuern, sagt Katharina Jaschinsky vom VCÖ: „Wirksame Maßnahmen sind niedrigere Tempolimits, eine fußgänger- und radfahrfreundliche Verkehrsplanung und die Erhöhung des Anteils von Elektro-Fahrzeugen. Vor allem bei Mopeds, Motorrädern und Lkw reduziert der Elektromotor den Lärm deutlich.“ Und Tempo 30 statt 50 nehme das Ohr nur als halb so laut wahr. Zu Weihnachten sind es neben dem Einkaufs- und Urlaubsverkehr auch die Zusteller , die die Straßen strapazieren. Allein die Post liefert im Dezember pro Tag über eine Million Pakete aus. Der Tageshöchstwert – und damit der Jahresrekord – war am 1. Dezember 2025 mit 1,6 Millionen Packerl. Kurier-Grafik Lärm muss aber nicht zwingend laut sein. „Auch ein tropfender Wasserhahn oder eine Mücke können störend sein“, sagt Christoph Reuter , Musikwissenschafter an der Universität Wien. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, warum uns manche Geräusche besonders nerven – wie das Krähen eines Hahnes. Neben der Lautstärke sind es vor allem zwei akustische Charakteristika, die der Mensch als unangenehm empfindet: raue und quietschende Klänge. Das Krähen beinhaltet beides. „Raue Klänge haben eine Dringlichkeit für uns“, sagt Reuter. Sie aktivieren ein Areal im Gehirn, das unter anderem für die Alarmbereitschaft zuständig ist. Und das Quietschen stört den Menschen generell: Man denke an Besteck, das über Porzellan kratzt, oder Schuhsohlen auf dem Turnsaalboden. Das unangenehmste aller Geräusche ist laut einer Befragung von über einer Million Menschen durch die Universität Salford jedoch ein anderes: der Klang, wenn sich jemand übergibt. „Das liegt vor allem an den außerakustischen Assoziationen“, sagt Musikwissenschafter Reuter. Auf Platz 2 landete das Pfeifen einer Mikrofon-Rückkoppelung. Auf Platz 3 Kindergeschrei. Wen stört was? Dennoch sei das Lärmempfinden des Menschen vor allem subjektiv, sagt Musikwissenschafter Reuter. Das bestätigt auch Umweltmediziner Hans-Peter Hutter. Es gehe vielfach um die Einstellung zur Lärmquelle: „Mich stört der Techno des Nachbarn weniger, wenn ich mit ihm prinzipiell in Einklang lebe, im Vergleich zu jemandem, den ich schon drei Mal darauf hinweisen musste, dass mein Kind zu dieser Zeit schlafen geht.“ Der Faktor individuelle Erfahrung kommt auch bei Weihnachtsmusik zum Tragen: Wenn sie stört, dann weniger wegen der Lieder an sich. „Die entscheidende Frage ist, ob man mit Weihnachten positive oder negative Emotionen verbindet“, sagt Christoph Reuter. Denn prinzipiell könne unser Gehör Geräusche – oder eben Musik – gut ausblenden. Die Bevölkerung ist in dieser Hinsicht jedenfalls gespalten. So ergab eine Umfrage der Universität der Bundeswehr München aus dem Jahr 2024, dass 39 Prozent den Weihnachtsklassiker „Last Christmas“ der britischen Popgruppe Wham! gerne hören, während 38 Prozent ihn nervig finden – also fast gleich viele. Kurier-Grafik Insbesondere die Weihnachtszeit zeigt, dass wir uns zu einer Gesellschaft ohne Ruhezeiten entwickeln. Trends wie geräuschreduzierende Kopfhörer, Silent Spas und Digital Detox spiegeln das jedenfalls wider. „Den Wert der Stille merkt man erst, wenn man sie verloren hat“, sagt Hutter. Dass die Sehnsucht nach Stille aber auch ihre Grenzen haben kann, zeigt das Orfield Labor. Niemand hat es dort bisher länger als 45 Minuten ausgehalten – es kommt zu Gleichgewichtsstörungen und Halluzinationen. Fehlen die Reize, produziert sie das Gehirn nämlich einfach selbst.