Routiniert gießt Sally Roxon die Zuckerglasur in den Spritzbeutel und rollt das offene Ende des Beutels locker zusammen. Mit Daumen und Zeigefinger drückt sie auf den gefüllten Teil und ein feiner weißer Zuckerfaden landet zielsicher auf dem Außenrand des Christbaum-Lebkuchens. Im Dezember ist das kein ungewöhnlicher Handgriff. Und doch ist es für die Umgebung etwas überraschend. Denn Sallys Patisserie-Küche, durch die nicht nur die erdige Süße des Lebkuchens, sondern auch der nussig-zimtige Geruch von Linzer Augen zieht, befindet sich weder in Wien-Margareten noch im Mühlviertel, sondern auf der anderen Seite der Welt, in North Melbourne . Anna-Maria Bauer Obwohl die südaustralische Stadt den Heiligen Abend meist mit 25 Grad begrüßt, findet man hier doch auch jene Traditionen, die wir von der nördlichen Hemisphäre kennen: Christbäume, die durch Vorzimmerfenster blitzen, Santa-Claus-Statuen auf den Hauptplätzen und Lebkuchenhäuser in den Kaffeehäusern. Einige von ihnen beweisen, dass Kängurus und Österreich doch nicht so weit voneinander entfernt sind. Zwischen verzierten Veranden Wer am Wochenende in der Lothian Street an den viktorianischen Wohnhäusern mit den gusseisernen Verandaspitzen bis zur Nummer 39 spaziert, stößt auf eine Schlange geduldig wartender Gäste. Von der schlichten, schlammfarbenen Fassade des einstöckigen Hauses sollte man sich dabei nicht täuschen lassen: Wer in den kleinen Verkaufsraum tritt, wird von saftigen Laugenbrezeln, ofenwarmen Apfelstrudel, buttrigen Zimtschnecken und, wenn man nicht zu spät dran ist, einem bunten Weihnachtsfrüchtekuchen mit Mandarinen und Macadamianüssen empfangen. Anna-Maria Bauer Die Bäckerei führen die Australierin Sally Roxton mit ihrem österreichischen Ehemann Christian Gattermayr. Beide arbeiteten in Gourmetrestaurants wie jenem von Starkoch Paul Bocuse, bis sie erkannten, dass die späten Arbeitsschichten der Nobelgastronomie kaum mit dem Familienleben vereinbar sind. Zunächst eröffneten sie ihr eigenes Kaffeehaus. Anna-Maria Bauer Doch schon bald nahm der Service die gesamte Aufmerksamkeit ein. Sally musste Torten und Kuchen zukaufen und dabei war doch das der Teil, den sie am meisten liebte. Und so gründeten sie 2018 die Austrobakery , eine Bäckerei, die an das kulinarische Erbe der alten Habsburgermonarchie anknüpft. Wiener Küche mit australischem Twist „Ich war schon immer von der mitteleuropäischen Küche angezogen“, sagt Sally. Ihre Vorfahren kamen aus Polen. Christian wiederum wuchs in Österreich mit Zimtschnecken, Zwetschkenknödel und Zwiebelrostbraten auf. „Ganz streng halten wir uns aber nicht an die Originalrezepte“, ergänzt die Bäckerin. Vielmehr hätten sie die Speisen an den modernen australischen Gaumen angepasst. „Die Sachertorte zum Beispiel, die ist im Original manchmal etwas trocken und die Glasur kommt mit viel Zucker. Unsere Glasur ist glänzender, hat weniger Zucker, dafür mehr Schokolade.“ Anna-Maria Bauer Nach sieben Jahren werden nicht nur die Mehlspeisen und Weckerl für den Verkauf am Wochenende zubereitet; die Austrobakery beliefert auch 13 Kaffeehäuser in Melbourne: die Florian Eatery, das schmale Cathedral Coffee gleich neben der Kathedrale oder auch das Project Zero Coffee, das fermentierten Kaffee anbietet. Die österreichische Tradition – erklärt Sally, während sie zwölf Stollen für eine Großbestellung vorbereitet – bestimmt nicht nur das Geschäftliche. Während die Australier gemeinhin wie die Briten und Amerikaner Weihnachten am Christtag feiern, gibt es bei den Roxon-Gattermayrs die Weihnachtsgans am Heiligen Abend.