Braucht Putin überhaupt einen Krieg, um seine Ziele zu erreichen?

Der Leidensweg der Ukraine wird mit einem wie auch immer gearteten Waffenstillstands- oder Friedensvertrag nicht zu Ende sein. Der Wiederaufbau mit sieben oder achthundert Milliarden Euro wird lange dauern und schwer zu stemmen sein. Auch politische Risiken werden bleiben. Putin denkt im Gegensatz zu Trump in strategischen Dimensionen. Als Alleinherrscher kann er dies trotz seines Alters tun, denn das System bleibt wohl erhalten. Es geht um die Zukunft, vordergründig der Ukraine. Das Festhalten am Donbass und der Beschränkung der ukrainischen Armee hat aus der Sicht Russlands nur dann Sinn, wenn man am Ziel, die Ukraine in dieser oder jener Form militärisch „heim ins Reich“ bringen zu wollen, festhält. Der Donbass ist wegen seiner stark ausgebauten Verteidigungsanlagen wichtig – aber nur, wenn man das Land nach einem Friedensschluss erneut militärisch erobern will. Privat / Privat Janos I. Szirtes. Dies ist allerdings gar nicht notwendig. Putins größtes Problem mit der Ukraine ist seine halbwegs demokratische Gesellschaftsordnung. Für die Postsowjetzeit ist eine, von der Autokratie abweichende Form, kraft des Beispiels, dass es auch anders als mit einem Friedhofsfrieden geht, brandgefährlich. Wenn es in der Nachsowjetzeit auch anders als autokratisch geht, könnte sich die Schlussfolgerung auch im Reich verbreiten. Dies wäre das Ende der Autokratie. Dies ist, neben den imperialen Großmachtabsichten, der eigentliche Grund für die Aggression Putins. Nicht die ukrainische Minderheitenpolitik, die in Russland durch Zwangsassimilierung viel schlimmer ist, als sie in der Ukraine je war. Allein 8 bis 10 Millionen Ukrainer sind davon in Russland betroffen, und sie sind nicht allein. Nicht die Korruption, die in Russland größer ist: Das Land liegt im Korruptionsindex an der 154. Stelle, die Ukraine an 105, beide von Bananenrepubliken umgeben. Nicht der Faschismusvorwurf, der von Moskau für jeden verwendet wird, der gegen Putin ist, z. B. für Deutschland oder Schweden. Nicht die militärische Gefahr eines Angriffs der Ukraine, die nur ein Viertel der Stärke hat und deren Armee bei der Aggression nur mit Verteidigungswaffen ausgestattet war. Nicht der Westen, der sich aus Verteidigungsgründen bis an die Grenzen des Reiches ausdehnte, wobei unterschlagen wird, dass die russische Armee ebenfalls an der NATO-Grenze bis an die Zähne bewaffnet steht, z.B. in Kaliningrad. Es ist die Angst, die das Beispiel der Ukraine für die russische Bevölkerung mit sich bringen kann. Putin hat die Vernichtung der ukrainischen Demokratie mit Waffen versucht, in der Annahme, sie in 3–7 Tagen überrennen zu können – eine Fehleinschätzung. Eigentlich hätte Moskau sein Ziel mit hybrider Kriegsführung erreichen können, doch dies hätte noch wesentlich länger gedauert. Man hat aber daraus gelernt. Nach einem wie auch immer aussehenden Waffenstillstands- oder Friedensvertrag wird man die jetzt schon 70 % der hybriden Kriegsführung ausmachenden Ziele verstärkt adressieren und damit ein Vasallensystem in Kiew installieren. Dies wird die halbwegs demokratische Ordnung des Landes ermöglichen. Es bleibt nur die Frage, ob Moskau abwartet, bis der Westen das Land wiederaufbaut, oder ob man bereits früher eine russenfreundliche Regierung – so wie in Georgien – etablieren will. Zum Autor: Janos I. Szirtes ist Politikwissenschafter, lebt in Budapest, war Journalist und Diplomat.