Neujahrskonzert-Dirigent: "Klassische Musik lebte immer schon in einer Krise"

Die Dirigentenparade (gendern nicht nötig) des Neujahrskonzerts zeigt neben höchster Qualität auch, wie eng gefasst das Bild des Mannes am Pult immer noch ist: Von manchen Requisitenscherzchen abgesehen, herrscht selbst am verkaterten 1. Jänner im Prinzip hochgeschlossene Soigniertheit. Die hohe Kunst der Klassik pflegt ein gediegen klassisches Bürgermännerbild. Yannick Nézet-Séguin ist anders. Der Kanadier hat, das sei hier zuerst genannt, auf Spotify eine 34-stündige Playlist für Haustiere erstellt (mit „Parsifal“!). Auf Instagram, wo bei anderen Dirigenten schon ein Polohemd als geradezu wagemutig leger gilt, ist er gar nicht so selten in Shorts zu sehen. Er teilt sich einen Grammy mit Filmstar Bradley Cooper , den er für den Bernstein-Film „Maestro“ beraten hat. REUTERS/MIKE BLAKE Und er scheint sich, modisch am Puls, auf dem Roten Teppich der Met-Gala ebenso wohlzufühlen wie beim Sommernachtskonzert vor Schloss Schönbrunn . Zugleich zeigt der Kanadier, dass Lockerheit und höchste Dirigentenkunst hervorragend zusammenpassen: Nézet-Séguin ist Musikdirektor der New Yorker Met, des Philadelphia Orchestra (eines der großen Fünf der USA) und des Orchestre Métropolitain (Montréal). Für das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, das er am Donnerstag erstmals dirigiert, scheint diese Verbindung von Heutigkeit und Kunst eine ideale Mischung zu sein. KURIER: Beim Neujahrskonzert hat man ein paar Millionen Zuseher und -hörer im Rücken. Macht das, nun ja, doch mehr nervös als sonst? Yannick Nézet-Séguin: (lacht) Stimmt, es ist das berühmteste Konzert der Klassik! Aber ich denke weniger daran, nervös zu sein, als an die große Ehre, es zu dirigieren. Dieses Konzert erinnert mich ganz stark daran, als ich es mir selbst als Kind immer angehört habe, später als Musikstudent und als angehender Dirigent. Ich kann kaum glauben, dass ich nun selbst an der Reihe bin, diese Ehre zu haben. Dafür bin ich sehr dankbar, aber nicht unbedingt nervöser. Bei uns Dirigenten gilt Nervosität etwas anderem: Wir wollen sicherstellen, dass die Beziehung zur Musik und zum Orchester stimmt. Mit den Wiener Philharmonikern ist diese Beziehung so schön, dass ich mich einfach darauf freue. APA - Austria Presse Agentur Was halten Sie von Strauss’ Musik? Vor dem Neujahrskonzert wird immer rapportiert, dass diese nur vermeintlich oberflächlich leicht und schön sei, aber darunter verborgen Melancholie und Tiefe stecke. Ist das für Sie wahr? Diese Musik legt großen Wert darauf, dass die Form angenehm bleibt und die Melodien, wie Sie sagen, schön sind. Aber dahinter steckt viel. Ich würde nicht unbedingt von Traurigkeit sprechen. Ja, oft gibt es nostalgische Aspekte, viel Gefühl. In meiner diesjährigen Auswahl geht es zudem viel um das Reisen und um Einflüsse von Menschen aus vielen Weltgegenden. Carl Michael Ziehrers „Donausagen“ etwa macht spürbar, was die Donau als Reiseroute in andere Länder ausgelöst hat. Ja, es scheint an der Oberfläche angenehm, heiter. Die Musik reicht jedoch bis zu den Wurzeln der Menschen, und dort gibt es alle Emotionen: von Nostalgie über Hoffnung und Freude bis zu Furcht. Es gibt Stücke, die von Frieden sprechen, obwohl gerade eine Niederlage erlebt wurde. Diese Musik ist reicher, als man ihr bisweilen zutraut. Und mehr, als man sich bewusst macht? Ich habe mich in meiner Laufbahn immer für dieses Repertoire interessiert und mit all meinen Orchestern in Nordamerika regelmäßig Musik der Strauss-Familie und ihrer Zeitgenossen dirigiert. Für das Neujahrskonzert war also nicht alles neu – aber mit den Wiener Philharmonikern an diesen Stücken zu arbeiten, hat mein Verständnis für diese Tradition natürlich vertieft. Dabei scheinen Strauss und sein Umfeld eher ein sehr lokales, europäisches Phänomen zu sein, dem der Rest der Welt nur begrenzt Aufmerksamkeit schenkt, oder? Die Identifikation der Österreicherinnen und Österreicher mit dieser Musik – und das Verständnis für all ihre Schichten – ist gewiss etwas sehr Lokales. Aber Wien ist bis heute das Zentrum des klassischen Musikuniversums. Auf der ganzen Welt wird dies als eine der unverkennbarsten Traditionen wahrgenommen. Man muss mit dieser Musik jedoch flexibel umgehen. Wenn man das nicht richtig macht, zerstört man sie. Ja, Strauss’ Musik hat bei manchen Musikern einen schlechten Ruf – und zwar zuweilen, weil sie es selbst nicht richtig machen (lacht). Und: Auch die Freude gehört unbedingt dazu. Unser Programm hat in diesem Jahr Themen wie den Weltfrieden, eine Huldigung an Frauen sowie Reisen und andere Kulturen – und zugleich möchte ich, dass die Menschen einfach eine gute Zeit haben. Apropos Tradition: In Nordamerika hört man von Finanzierungsnöten, schrumpfendem Publikum und schwindender Bindung an die Tradition der klassischen Musik. Teilen Sie diese Diagnose? Ich lese die Lage etwas anders, ohne zu behaupten, alles sei wunderbar. Das zentrale Problem seit Jahren ist, dass immer weniger junge Menschen mit Musik in Berührung kommen. Es gibt schlicht weniger Musik in den Schulen – zumindest in Kanada und den USA. Die Qualität der Vermittlung ist nicht das Problem, die Lehrenden machen großartige Arbeit, aber es fehlt an Präsenz. Das verlagert die Verantwortung auf Orchester, Opernhäuser und Institutionen. Ist das gut oder schlecht? Paradoxerweise spüre ich gerade wegen dieser unglücklichen Situation, dass sich der Wind vielleicht zu drehen beginnt. Die Institutionen nehmen die Aufgabe viel ernster, die Menschen auf vielfältigere Art zu erreichen. Und in einer Welt, die gerade nur wenig Freude bietet, wenden sich die Menschen der Musik zu. Die Säle sind so voll wie seit Langem nicht: In Philadelphia, in New York, in Montreal. An der Met haben wir eine großartige Saison. In Philadelphia ist es die beste Saison jedenfalls seit einem Jahrzehnt, in Kanada ähnlich. Es gibt ja doch etwas Gutes an der allseitigen Krise! Klassische Musik lebte selbst immer schon in einer Krise. Das hat etwas Trauriges. Aber wenn man härter arbeiten muss, um etwas lebendig zu halten, macht das die Sache oft relevanter. Ich hege die Hoffnung, dass diese Jahre und ihre Ereignisse zu einem tieferen Verständnis führen, dass Klassik uns als Menschen zu unserem Innersten führt, uns einen größeren Sinn spüren lässt – und ein möglicher Weg ist, damit Nationen zusammenfinden, ohne mit Worten zu kämpfen. Ich bin Optimist, ich kann nicht anders. Und ich bin froh, dass Optimisten wie ich versuchen, gemeinsam durch diese Zeit zu navigieren. Welche Verantwortung trägt ein Star wie Sie in dieser Welt? Ihr Instagram-Auftritt wirkt zugänglich, freundlich – einen Dirigenten in Shorts hätte man vor 15 Jahren kaum gesehen. Das holt die Klassik in die Gegenwart. Wir Musikerinnen und Musiker sind Menschen der Gegenwart, die zugleich mit einer Tradition verbunden sind. Diese Verbindung zur Vergangenheit bleibt leer, wenn wir sie nicht für die Menschen von heute lebendig machen. Meine Vision ist es, Strauss, Schubert, Bach zu ehren – das ist die erste Pflicht. Aber um die Musik heute lebendig zu machen, müssen die Leute sehen, dass wir echte Menschen sind, aus Fleisch und Blut, mit Menschen, die wir lieben, mit Familien, mit Dingen, die uns Freude machen. Mein Ansatz ist, so transparent wie möglich zu sein. Auch künstlerisch? Ein Dirigent, heißt es, ist dann gut, wenn er seine Intentionen klar vermitteln kann. Wenn man das nicht kann, kann man auch nicht authentisch sein. Ich möchte einfach ich selbst sein. Und ich fühle, dass ich nichts verstecken muss. Denn authentisch zu sein hilft mir, meinen Job besser zu machen. Ich denke nicht: Wenn ich dies poste, erreiche ich ein Publikum, das ich sonst nicht erreiche. Das wäre der falsche Ansatz. Aber genauso wenig hilft es im 21. Jahrhundert, sich als unnahbare, geheimnisvolle Figur zu inszenieren. Das hilft nicht! Apropos 21. Jahrhundert: In Wien wird jedes Jahr aufs Neue diskutiert, dass noch nie eine Frau das Neujahrskonzert dirigiert hat. Ist die Klassik bei Diversität und Repräsentation nicht heillos spät dran? Ich bin sicher, dass eine Frau das Neujahrskonzert in einigen Jahren leiten wird – wann, weiß ich nicht, aber es wird kommen. Ich engagiere mich stark in der musikalischen Ausbildung und im Dirigierunterricht. Genau dort muss mehr passieren: Menschen auszubilden, die nicht dem jahrzehntelang dominierenden Bild entsprechen – also nicht nur weiße Männer. So wie wir vor hundert Jahren lernen mussten, dass Dirigentinnen und Dirigenten nicht zwingend aus Europa kommen müssen. Und wie treibt man das an? In all den Institutionen, deren musikalischer Leiter, Chefdirigent oder künstlerischer Direktor ich bin, treffe ich bewusste Entscheidungen: das Podium zu öffnen, Frauen und Angehörigen unterrepräsentierter Gruppen Türen zu öffnen. Und vor allem zu zeigen, dass Musik für alle da ist. Aber es braucht Zeit. Wir wollen junge Mädchen inspirieren, dann dauert es aber natürlich eine Weile, bis die am Podium ankommen. Aber es werden immer mehr. Und beim Neujahrskonzert? Wer das Neujahrskonzert dirigiert, wurzelt einem wichtigen Teil der Tradition: der langen Partnerschaft. Ich spreche nicht für das Orchester, aber mir war wichtig, mit zwei Komponistinnen und mit Josef Strauß’ „Frauenwürde“ im Programm ein Zeichen zu setzen. In der Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern habe ich gespürt, dass alle dabei an Bord waren, mit Offenheit zur Gegenwart zu sprechen. Ich bin sicher, dass es mit Veränderungen in diese Richtung weitergeht.