Vier Minuten zu Fuß, genau 260 Meter, sind es von der U4-Station Meidling bis in die Ehrenfelsgasse 4. Hier befand sich bis vor etwa einem Jahr das „ Gasthaus Stafler “ – einer der wenigen Orte in Wien für Südtiroler Küche. Jetzt sitzt dort Jürgen Sattler an einem der spiegelglatten, zart grünlich schimmernden Resopaltische und spricht das vielleicht kürzeste Lob aus, das die Wiener Linien je erhalten haben: „Danke, U4.“ Die sorgt nämlich dafür, dass die abgelegene Vorstadtgasse für eingefleischte Beislgeher schneller zu erreichen ist als ein etwas vom Schuss befindliches Wohngrätzel in der Innenstadt. Der Stafler ist nicht mehr der Stafler. Der Stafler ist zum „ Gasthaus Bretschneider “ geworden. Und über kaum ein Lokal in der Stadt wurde zuletzt in Zeitungen und Sozialen Medien so viel geschrieben wie über dieses. Allerdings ging es nicht um Speis und Trank. Es ging schlicht und einfach um die bedrohte Existenz dieses prachtvollen Wirtshauses. Still, leise und dann ganz laut Georg und Marie Stafler mussten ihr Lokal 2024 aus persönlichen Gründen schließen. Sie suchten Nachfolger , still und leise zunächst. Und, wie es zunächst aussah, mit Erfolg. Als Jürgen Sattler den „Stafler“ im März 2025 in der Nachfolgebörse der WKO entdeckte, griff er zum Telefon. „Sie haben schon wen im Auge gehabt“, erinnert er sich. „Ich hab' mir gedacht, schade. Aber falls das nichts wird: Sie haben meine Telefonnummer.“ Im Mai war die geplante Übernahme tatsächlich geplatzt. Bei Jürgen Sattler läutete das Telefon; kurz darauf betrat er zum ersten Mal den alten Stafler: „Ich bin hinein und hab’ laut gesagt: Wow!“ Kulturgut Noch heute streicht er als neuer Wirt liebevoll über das viele patinierte Holz und sagt: „Ich verstehe so etwas als Kulturgut.“ Aber bevor er dieses Erbe antreten konnte, wurde es ein kleines bisschen dramatisch. Jürgen Sattler und Georg Stafler verhandelten alles fertig. Wort und Handschlag waren gegeben, es fehlte nur noch die Unterschrift. Am Abend des 25. Mai machten Bekannte Jürgen Sattler auf einen Online-Hilferuf aufmerksam. „Letzter Versuch, unser Gasthaus zu retten“, schrieben die Staflers; der Musiker Voodoo Jürgen s teilte den Beitrag: „Will das wer retten?“ Der Appell ging viral Sattler grübelte – „Was ist jetzt los?“ – und telefonierte wieder. Das Happy End der Verwirrung: alles nur ein Missverständnis . Am 4. September sperrte Sattler, gemeinsam mit dem Sommelier Klaus Silberbauer , auf. Der neue Name des Lokals prangte eh schon in silbern glänzenden Lettern auf der alten Schank: Bretschneider , in den 1950er-Jahren das VW-Käfer-Cabrio unter den Kühlanlagen, solid und fesch. Sattler und Silberbauer sahen den Schriftzug und dachten sich: „Na, dann samma halt der Bretschneider.“ Jürgen Sattler war schon fast 50 Jahre alt, als er erstmals unternehmerische Gastroluft schnupperte. Er stammt aus Andau im burgenländischen Seewinkel; die kulinarische Sozialisation war ortstypisch: Sautanz, Hochzeitsbäckereien und ein Quintett aus Gewürzen, über das er sagt: „Mehr brauchen wir nicht: Salz, Pfeffer, Majoran, Paprika, Knoblauch.“ Mit 18 zieht er nach Wien und geht ins internationale Bankgeschäft. „Aber mit 48 hat mein Finanzfeuer nicht mehr gelodert.“ Er gründet das Gourmetrestaurant „Sattlerei“ in der Leopoldstadt, anfangs sehr, später überschaubar erfolgreich. Im Oktober 2024 sperrt er zu: „Fine Dining ist in einer sehr kritischen Phase“, befindet er mittlerweile. „Ich wollte ein Wirtshaus, das macht viel mehr Spaß.“ Aus dem Bankberater ist ein Schankberater geworden. Pannonisches Tiramisu Das Burgenland prägt auch die Küche im „Bretschneider“, die Sattler als Autodidakt leitet. Das Beuschel basiert auf einem Rezept seiner Andauer Mutter; es wird nur mit Herz und Zunge ohne Lunge, gemeinsam mit passierten Karotten, in einer Einbrenn gedünstet. Klaus Kamolz Reminiszenz im Körberl: Burgenländische Grammelpogatschen. Und ohne Somloer Nockerl geht so eine pannonische Küche auch nicht. „Das ist unser Tiramisu“, sagt der Wirt und lacht. Auch die Wiener Küche führt er zurück zu ihren Wurzeln. Klaus Kamolz Der Vorspeisen-Hit: Kalbszungensulz mit Käferbohnen. Anhand des Altwiener Backfleisch s, das in der Gegenwart meist als rosa gebratenes Beiried serviert wird, kann Sattler das exemplarisch erklären. „Traditionell gesehen ist es ein Musterbeispiel dafür, wie man aus der Not einen Genuss macht.“ Anders formuliert: wie man gleich drei Gerichte daraus generiert. Ein Stück Siedefleisch – im „Bretschneider“ ist es das Schulterscherzel – wurde zunächst als klassisches Gesottenes serviert. Ganz nebenbei entstand auch eine kräftige Rindsuppe. Was übrig blieb, wurde in Scheiben geschnitten, mit Senf und Kren bestrichen und paniert. „Das kriegt man nur mehr sehr selten“, weiß Jürgen Sattler. Draußen in Meidling aber schon. Weil eh schon wissen: Danke, U4.