Österreichs oberste Gesundheitsbeamtin: "Die Pandemie hat Narben hinterlassen"

KURIER: Frau Reich, abgesehen von Deutschland gibt kein EU-Land mehr für das Gesundheitssystem aus als Österreich. Dennoch liegen wir bei der Lebenserwartung mehrere Jahre hinter Ländern wie Schweden oder Italien. Was läuft da schief? Katharina Reich: Es fehlt uns die Verbindlichkeit. In Österreich geschieht vieles freiwillig, gerade in der Prävention wie etwa bei Vorsorgeuntersuchungen. Da haben wir aufzuholen. Die angesprochenen Länder gehen anders an die Sache heran. Inwiefern? In anderen europäischen Ländern sind viele Themen der Prävention gesetzlich stärker verankert. Wir haben in Österreich nur ein einziges Screeningprogramm: das Brustkrebsvorerkennungsprogramm. Das läuft seit vielen Jahren sehr gut, aber das ist zu wenig. Hinzu kommt, dass wir bei chronischen Erkrankungen mitunter unstrukturiert agieren. Patienten werden zwischen dem niedergelassenen Bereich und den Spitälern hin- und hergeschickt. Um ein Beispiel zu bringen: Bei Diabetes müssen Patienten zur orthopädischen Fußkontrolle, weil sie oft Probleme mit den Füßen haben. Dann gehen sie zur Augenkontrolle, irgendwann muss die Insulinpumpe eingestellt werden etc. Da kann man schnell den Überblick verlieren. Ein professionelles Disease-Management-Programm bzw. integrierte Versorgungsmodelle legen diese Abläufe standardisiert fest. In Österreich ist das noch nicht flächendeckend üblich. kurier / Tobias Steinmaurer Sie sprechen von bereits Erkrankten. Haben wir nicht auch bei den Noch-Gesunden ein Problem, weil Vorsorge kein Thema ist? Absolut. Bei der Vorsorge-Untersuchung fehlen Anreize oder spielerische Zugänge, um auch jene zu erreichen, die nicht daran denken. Sie meinen finanzielle Anreize wie etwa, dass Selbstbehalte sinken, wenn ich regelmäßig zur Kontrolle gehe? Durchaus, wobei wir hier im politischen Bereich sind. In Österreicher gibt es viele Zuständigkeiten und die Gesundheitsförderung ist in jedem Bundesland individuell geprägt. Da gibt’s eigene Budgets und eigene Programme. Aber der Behandlungspfad für Diabetes ist ja in Eisenstadt kein anderer als in Innsbruck, oder? Nein ist er nicht, aber die unterschiedlichen  Krankenkassen übernehmen unterschiedliche Leistungen in den Bundesländern. Manches wird bezahlt, anderes nicht. Die Patienten finden sich in diesem System oft schwer zurecht. Das größte Ärgernis der Versicherten sind laut Umfragen die langen Wartezeiten. Der Kanzler hat versprochen, dass sich die Lage ab 2027 verbessert. Ist das machbar? Die Politik hat die Aufgabe, Ziele zu setzen, wir haben den Job, die Dinge zu ermöglichen. Eine der zentralen Fragen lautet: Wie gelangen Menschen ins Gesundheitssystem? In der Praxis erfolgt der Zugang entweder über die Primärversorgung, etwa durch den Hausarzt, oder über Fachärzte und Spitäler. Bei Letzteren zeigt sich jedoch häufig, dass Patientinnen und Patienten direkt in hoch spezialisierten Versorgungsstrukturen ankommen, obwohl ihr Anliegen auch auf einer vorgelagerten Versorgungsebene hätte adressiert werden können. Sie meinen, die Menschen gehen mit Wehwehchen zum Spezialisten, obwohl sie eigentlich ein Fall für den Hausarzt wären? Es geht nicht darum, den Menschen den Besuch beim Facharzt prinzipiell zu erschweren. Es geht darum, dass wir die Primärversorgung, also die Familien- und Allgemeinmedizin, zur ersten Anlaufstelle machen. Ein Hausärztin kennt ihre Patienten, sie weiß: Diese Familie hat zum Beispiel ein orthopädisches Thema, bei diesen und jenen Medikamente sind Allergien vorhanden etc. Hausärzte sparen auf lange Sicht viel Zeit und Mühe, weil sie die Patienten gut kennen und auch bei der Suche nach einem Facharzt helfen können. Einer der Gründe für die langen Wartezeiten ist derzeit, dass Patienten nicht beim richtigen Arzt bzw. Facharzt landen. Nicht jedes Ekzem ist gleich ein Fall für den Dermatologen. Wir haben also nicht zu wenige Ärzte? Grundsätzlich nicht. Aber wir haben insgesamt beim Personal nach Corona einen "Bruch" gesehen. Wir haben einige Menschen aus dem System verloren. Da sind wir nicht auf dem Stand von 2019, die Pandemie hat Narben hinterlassen. Die Zahl der Spitalsaufnahmen hat abgenommen, die Auslastung ist geringer. Das hat damit zu tun, dass das Personal mehr Teilzeit arbeitet und dass Operationssäle und Stationen nicht so personalintensiv betrieben werden können wie früher. Was hat das Gesundheitssystem eigentlich aus Covid gelernt? Die Impfbereitschaft ist ja nicht berauschend. Beim Impfen spreche ich gerne über die Menschen, die sich impfen lassen wollen, denn: Das ist der überwiegende Teil. Bei Impfungen wie Gürtelrose oder Pneumokokken gibt’s einen Ansturm, bei der Influenza wird es von Jahr zu Jahr mehr, und das liegt nachweislich daran, dass die Impfung kostenlos abgegeben wird. Wir sehen: Wenn Impfungen gratis angeboten werden, gibt es großen Zuspruch. Und Impfskeptiker? Die gibt‘s, aber sie sind eine Randgruppe. Die Masse der Menschen sagt: Impfungen sind wichtig, und wenn der Staat sie kostenlos anbietet, nehmen wir das gerne an, weil es allen viel Leid erspart. Was hat Covid im System verändert? Wir haben in Sachen Pandemieplanung vieles verbessert: In Österreich und in Europa wurden Themen wie die Lagerhaltung sehr intensiv besprochen, wir machen uns strukturiert Gedanken darüber, wie wir Behördenwege vereinfachen und haben mit Maßnahmen wie dem Abwasser-Monitoring einen aktuelleren Überblick über das Geschehen. Unsere Temperaturfühler am System sind jetzt besser, wir können in Echtzeit auf Bundesländer herunterbrechen, wie es um respiratorische Erkrankungen steht. Der Kabinettschef des Bundeskanzlers muss also nicht – wie bei Covid19 – selbst Spitäler durchtelefonieren, um einen Stand zu bekommen? Nein. Wenn wir etwas gelernt haben, dann dass das Föderale bei einer Pandemie nicht hilft. Dass jedes Bundesland sehr unterschiedliche Zugänge bei der Pandemiebekämpfung verfolgt hat, das hat uns nicht unbedingt geholfen. Apropos Länder: Die Reformpartnerschaft zwischen Bund und Ländern soll auch die Spitalslandschaft neu ordnen. Sie sitzen hier mit am Tisch – womit ist zu rechnen? Ich kann sagen, was wir als Ministerium einbringen können und das ist ganz allgemein, dass die Planung entlang von Regionen und nicht entlang der Ländergrenzen passieren sollte. Klar ist: Die Patienten brauchen vor Ort eine gute Versorgung, die Angebote wie zum Beispiel Röntgen und spezielle Therapien beinhaltet. Medizinische Versorgungszentren sozusagen. Das, was sehr kompliziert und selten ist, sollte in spezialisierten größeren Häusern gemacht werden. Also Operationen, die nicht täglich auftreten, die aber in hoher Zahl gemacht werden müssen, damit die Qualität stimmt und weniger Komplikationen auftreten. Gerade über das Qualitätsthema wird in Österreich noch wenig gesprochen. Was nicht funktioniert ist, Abteilungen oder Spitäler zu schließen, ohne gleichzeitig Ersatz dafür anzubieten. Zuletzt gab es Aufregung um den Eltern-Kind-Pass – unter anderem deshalb, weil Hebammen gegen gestrichene Untersuchungen protestiert haben. Wir streichen nichts, wir bieten sogar mehr an. Es war eine langjährige Forderung der Hebammen, eine Verpflichtung der Hebammenuntersuchung einzuführen, die an das Kinderbetreuungsgeld gekoppelt ist. Diese Verpflichtung kommt nicht, da es Unterschiede gibt: Eine Frau, die ihr zweites oder drittes Kind bekommt, könnte eine verpflichtende Hebammen-Beratung als Bevormundung empfinden. Aber wer diese Leistung in Anspruch nehmen möchte, bekommt sie.