Alles hat seine Zeit : Wir messen Hundertstel, zählen Minuten und Stunden, planen Tage und Jahre – und verlieren dabei oft das Gespür für den Augenblick. – Zugegeben, das Nachdenken über die Zeit fordert Geist und Verstand: Warum vergeht sie manchmal wie im Flug und zieht sich dann wieder wie ein Strudelteig? Warum brauchen wir Uhren, wo doch jeder seine eigene Zeit zu haben scheint? Und was verlieren wir, wenn wir glauben, Zeit sparen zu können? Wer sich im Folgenden auf Konrad Paul Liessmanns Gedanken zur und über die Zeit einlässt, wird beim nächsten Blick auf die Uhr womöglich an einen gemäßigten Umgang mit ihr erinnert – oder sogar zu mehr Muße ermutigt. Katharina Baumhakel In Hofstetter Kurts Installation „Einen Augenblick Zeit“ blicken sich in der U-Bahn- Station Schottentor zwei Augen an. Zwischen ihren Lidschlägen erscheint auf den Monitor-Pupillen die Zeit. Herr Professor Liessmann, haben Sie einen Augenblick Zeit? Nicht nur einen Augenblick, Frau Baumhakel. Mir genügt vorerst ein Augenblick. Aber was verstehen Sie darunter? Der Augenblick ist eine große Sehnsucht. Er ist einerseits die kleinste erlebbare Einheit im Strom der Zeit und andererseits die Utopie, es gäbe etwas, das sich diesem Strom widersetzt. Goethes Faust wettet mit dem Teufel darum, dass dieser ihm keinen Augenblick schenken könne, der so vollkommen sei, dass er zu ihm sagte: „Verweile doch, du bist so schön.“ Und wie verhält sich dieser schöne Augenblick zum Fluss der Zeit? Für den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, einen meiner Lieblingsdenker, war der Augenblick eine zentrale Erfahrung: die einer unmittelbaren, überwältigenden Lebensgewissheit. Im Augenblick berühren sich nach Kierkegaard Zeit, also das Vergängliche, und Ewigkeit. Ähnlich dachte wohl Ludwig Wittgenstein, als er schrieb: „Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.“ Das ist ein Plädoyer für ein Leben im Jetzt, nicht für ein ständiges Schielen auf die Zukunft oder die Vergangenheit. So sehr wir im Jetzt leben wollen, der Zeit können wir nicht entfliehen. Was also ist Zeit? An dieser Frage sind schon einige Geistesgrößen gescheitert. Legendär ist die Antwort des Heiligen Augustinus: „Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.“ Natürlich scheint uns klar zu sein, was Zeit ist: das, was vergeht. Oder: was die Uhr anzeigt. Oder: was uns fehlt. Oder: was uns unter Druck setzt. Eine exakte Definition ist das jedoch nicht. Wie könnte man sich hier einer Definition annähern? Ich würde in erster Linie zwischen der erlebten und der gemessenen Zeit unterscheiden. Schon Augustinus hat die Zeit als psychisches Phänomen beschrieben: Zeit ist der Bogen, den wir aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft spannen. Aber davon wissen wir nur aus unserer inneren Erfahrung. Die Vergangenheit ist nichts als Erinnerung, die Gegenwart nichts als unmittelbares Erleben, die Zukunft nichts als unsere Erwartungen, Ängste und Hoffnungen. In diesem Sinne ist Zeit natürlich begrenzt. Und wann ist sie unbegrenzt? Ob die Zeit unendlich oder begrenzt ist, ist selbst eine Streitfrage; im modernen physikalischen Verständnis hat Zeit zumindest einen Anfang – sie entsteht mit dem „Urknall“. Interessant ist, dass alte zyklische Zeitkonzepte, die davon ausgingen, dass alles sich wiederholt, am ehesten die Unbegrenztheit der Zeit behaupten. Friedrich Nietzsche konnte deshalb auch von der „ewigen“ Wiederkehr des Gleichen sprechen. Wie ist das zu verstehen? Nun, womöglich dachte Nietzsche tatsächlich an die ewige physikalische Wiederholung aller denkbarer Ereignisse im Kosmos. Interessanter ist für mich aber eine andere Variante: Was bedeutete es für unser Leben, wenn wir uns vorstellen müssten, dass sich alles wiederholen wird – wie würden wir dann leben, wenn es keine Einmaligkeit gäbe und ich nie sagen könnte: Gut, dass das überstanden ist? Diese Vorstellung führt zu einer grundsätzlicheren Frage: Was macht die Zeit mit uns, und was machen wir aus ihr? Die schönste Antwort darauf hat die alternde Marschallin in Richard Strauss’ Oper „Der Rosenkavalier“ gegeben: „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.“ Junge Menschen haben scheinbar unendlich viel Zeit, da spielt sie keine Rolle. Erst im Alter spürt man, dass sie knapp und zu einem beherrschenden Thema wird. Arthur Schopenhauer formulierte treffend: „Greisen wird die Zeit stets zu kurz, und die Tage fliegen pfeilschnell vorüber.“ Wir sagen: Wie doch die Zeit vergeht. Genau betrachtet müsste man sagen: Nicht die Zeit vergeht – wir vergehen. Zeit ist die Veränderung, die wir an uns und unserer Umwelt wahrnehmen. Und auch physikalisch ist Zeit an Bewegung gekoppelt. Gäbe es keine Bewegung, gäbe es auch keine Zeit – absoluter Stillstand. … und da Zeit Bewegung ist, lässt sie sich auch messen? Menschen haben immer versucht, Bewegungen und Veränderungen zur Strukturierung ihres Lebens zu verwenden – denken wir an frühe Sonnen- oder Sanduhren, aber auch an den Jahreskreis. Zeit wird in diesem Sinne meist zyklisch aufgefasst, als Rhythmus der Wiederholung: Schon wieder wird es Weihnachten. Die Vorstellung einer linearen Zeit, eines Zeitpfeils, der nur in eine Richtung zeigt, ist – so verblüffend es klingt – eine wesentliche Erfindung des Christentums. Wie das? Die frühen Christen glaubten nicht an zyklische Zeitordnungen, sondern an die einmalige Wiederkunft des Erlösers in der Zukunft. Nun hatte die Geschichte ein Ziel, auf das sie hinsteuerte, und an diesem Ziel wurden Gegenwart und Vergangenheit gemessen. Und früh begann man auszurechnen, wann es so weit sein könnte – vielleicht schon morgen, vielleicht in 1000 Jahren, vielleicht erst in 2000 Jahren. Kaum war das gedacht, dachte man Zeit anders. Solange wir an die Idee des Fortschritts glauben, bleiben wir diesem Modell im Prinzip verhaftet. Arman Rastegar Wer etwas auf sich hält, leistet sich den Luxus, nicht die Uhr über das Leben, sondern das Leben über die Uhr bestimmen zu lassen. Konrad Paul Liessmann Gehört zu dieser Fortschrittsidee nicht auch die Vorstellung, dass man Zeit möglichst effizient managen muss? Wir tun so, als wäre Zeit eine quantifizierbare Ressource, über die wir frei verfügen könnten. Unsere Praxis der Zeitmessung führt zu dieser – ich würde nicht sagen Täuschung, aber doch schiefen Einstellung. Teile ich den Tag in 24 messbare Stunden und lege fest, was ich in einer Stunde erledigen kann, lässt sich leicht berechnen, was ich an einem Tag alles unterbringen könnte oder müsste. Möglich, dass darüber die Qualität unseres Lebens leidet. Friedrich Nietzsche mokierte sich schon im 19. Jahrhundert darüber, dass man nun alles dem Diktat einer möglichst effizient ausgefüllten Zeit unterwerfe und keine Muße mehr kenne: „Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt wie einer, der fortwährend etwas‚ versäumen könnte’.“ Erstaunlich, wie Nietzsche schon damals unser Lebensgefühl beschrieben hat ... Tatsächlich! Dieser Gedanke ist wichtig – vielleicht sogar ein Grund für manche Depression. Weil die Möglichkeiten der Welt unsere Lebenszeit immer übersteigen, lebt derjenige, der nichts versäumen will, ständig im Modus des Vorläufigen, des Unzulänglichen, der Frustration. Das ist nicht gesund. Wer etwas auf sich hält, leistet sich den Luxus, nicht die Uhr über das Leben, sondern das Leben über die Uhr bestimmen zu lassen – und so lange bei Dingen und Menschen zu verweilen, wie es diese erfordern, nicht wie es eine abstrakte Zeit vorgibt. Aber ich gebe zu, es ist wirklich schwer, über seine Zeit zu verfügen. Was sagt uns ein Blick auf die Uhr? Warum haben wir Uhren, obwohl jeder seine eigene Zeit zu haben scheint? Die Uhr – vor allem die analoge mit Zifferblatt und Zeiger – vereint zwei Dimensionen der Zeit: das zyklische Moment, indem sich der Zeiger dreht und einen 12-Stunden-Rhythmus anzeigt, und das objektive Moment, indem sie Zeit unabhängig von unserem subjektiven Empfinden misst. Ein einheitliches Zeitregime hat übrigens erst die Erfindung der Eisenbahn erzwungen: Um Fahrpläne zu synchronisieren, musste die Zeit am Ankunftsort dieselbe sein wie am Abfahrtsort, man konnte sich nicht mehr am Sonnenstand, der ja überall ein wenig anders ist, orientieren. Warum faszinieren wertvolle Uhren? Wertvolle Uhren sind eine Besonderheit: Sie zeigen das Vergehen der Zeit und damit die Vergänglichkeit schlechthin an, symbolisieren aber als kostbare, wertbeständige, aufwendig hergestellte und luxuriöse Objekte zugleich das Bleibende, das Unvergängliche – das, was die Zeit, die sie messen, überdauert. Im Gegensatz zu digitalem Schnickschnack, der die Zeit natürlich höchst exakt misst, kann man gediegene mechanische Uhren guten Gewissens über Generationen vererben. Was bedeutet es, wenn wir ständig auf die uns vererbte Uhr blicken? Weil uns langweilig ist? Langeweile hat zwei Seiten. Ich kann sagen: Mir ist langweilig – weil ich mit mir nichts anzufangen weiß und die Unterhaltungsangebote versagen. Oder ich kann sagen: Etwas ist langweilig – etwa eine Politikerdiskussion voller Floskeln. Einmal habe ich ein Problem mit mir, einmal ein Problem mit der Welt. In einem Fall frage ich mich: Was erfüllt mich mit Sinn? Im anderen fälle ich ein – meist ästhetisches – Urteil über die Welt. Schlimmeres, als eine Serie, einen Podcast oder ein Musikvideo langweilig zu nennen, gibt es ja kaum. Solche Erscheinungen spiegeln den Zeitgeist wider – aber was genau verstehen wir darunter? Der Zeitgeist ist immer ein Missverständnis. Der Begriff stammt übrigens von Goethe; sein Faust formuliert es so: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Der Zeitgeist ist der Geist der Eliten, die sich gern mit dem Weltganzen verwechseln. Wirklich kritische Geister wie Friedrich Nietzsche legten deshalb auch Wert darauf, „unzeitgemäß“ zu sein – heute würde man sagen: abseits des Mainstreams zu denken. Gehört zum Geist unserer Zeit nicht die Utopie, dass wir aufgrund unserer technischen Möglichkeiten immer mehr Zeit zur Verfügung haben müssen? Das ist eines der großen Rätsel unserer zeitbesessenen Welt. Durch moderne Technologien müssten wir längst „mehr“ Zeit haben – für was auch immer. Tatsächlich muss immer mehr in immer kürzerer Zeit erledigt werden, angeblich, um im Wettbewerb zu bestehen. Gleichzeitig bewundern wir Kulturen der Gelassenheit, die nicht nervös werden, wenn etwas nicht sofort geschieht. Vielleicht täte uns eine gewisse Mäßigung im Umgang mit der Zeit gut. Vielleicht sollten wir wieder warten lernen. Es muss nicht alles sofort geschehen. Für manche Dinge – nicht für alle – kann man sich Zeit lassen. Es gilt doch das Diktum, dass man möglichst effizient und sparsam mit seiner Zeit umgehen soll … Es gibt die wirtschaftsliberale Weisheit, Zeit sei Geld. Sie geht auf Benjamin Franklin zurück. Man kann diesen Satz aber auch umdrehen: Geld ist Zeit. Da Geld beliebige Werte repräsentiert, die erst in der Zukunft eingelöst werden, ist jeder „Hunderter“ ein Vorgriff auf die Zukunft – nur weiß ich nicht, auf welche. Vielleicht löse ich ihn morgen für ein gutes Essen ein, vielleicht in zwei Wochen für ein Buch, vielleicht spende ich ihn. Fast alles ist möglich. Das macht die Faszination des Geldes aus: Es ist, solange es nicht drastisch an Wert verliert, immer eine Option auf Zukunft. Jemand, der Geld vererbt, vererbt damit tatsächlich auch Zeit. Das erklärt auch das Dramatische an großen Inflationen: Es handelt sich bei der Geldentwertung schlicht um Zukunftsvernichtung. Wann ist der richtige Zeitpunkt gekommen, um sein Geld auszugeben? Gibt es überhaupt richtige und falsche Zeiten? Darauf möchte ich mit einem Vers aus dem alttestamentarischen Buch Kohelet antworten: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben, ...“ Ich schätze diese Verse sehr. Sie betonen die Eigenzeit der Dinge. Die alten Griechen unterschieden zwischen Chronos und Kairos. Chronos ist die gleichmäßig vergehende, messbare Zeit. Kairos hingegen ist das, was jetzt „an der Zeit“ ist, was seine eigene Zeit hat – und die ist nicht in jeder Situation gleich. Wenn wir uns mit der Zeit versöhnen wollten, sollten wir diese Unterscheidung wieder aufnehmen. Der Chronometer am Handgelenk ersetzt nicht das Gespür dafür, wann es an der Zeit ist, etwas zu sagen oder zu tun, zu schweigen oder geduldig zu sein. Der Chronometer am Handgelenk ersetzt auch nicht das Gespür dafür, wann und für welche Angelegenheit der richtige Augenblick gekommen ist – nicht wahr, Frau Baumhakel? Sie haben Recht, Herr Professor – jetzt ist der rechte Augenblick gekommen, das Gespräch zu beenden. Vielen Dank für Ihre Zeit!