"Die Wahl im nächsten Jahr wird die letzte vor dem Krieg sein.“ Die anderen europäischen Staats- und Regierungschefs, sie hätten längst entschieden, Europa in einen Krieg zu führen. Es ist Anfang Dezember, der ungarische Ministerpräsident sitzt in blauem Hemd, leger ohne Krawatte, auf einer Bühne in einer Sporthalle im zentralungarischen Kecskemét, vor seinen Anhängern. Im Wahlkampf , in dem sich Ungarn gerade befindet, wird die drohende Kriegsgefahr noch häufiger beschworen als sonst. Das Paradoxe dabei: Während die meisten anderen europäischen Länder den Wehrdienst wieder einführen und ihr Militär aufstocken, ist das Thema in Ungarn trotz der ständigen Warnungen vor einem Krieg absolut tabu. Die vermeintliche Kriegsgefahr dient Viktor Orbán vorrangig als populistische Rhetorik, um die Bevölkerung emotionsgetrieben hinter sich zu scharen. Gleichzeitig weiß er, der in den vergangenen Jahren unauffällig die Militärausgaben erhöht, Ungarn einst in die NATO geführt hat und ursprünglich gegen die Abschaffung der Wehrpflicht gewesen ist, ganz genau, dass er mit dem Thema Wehrdienst auch bei seinen eigenen Wählern unten durch wäre. Obwohl die Ungarn das Thema Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit laut Eurobarometer-Umfrage als die wichtigsten Aufgaben von Regierung und EU sehen. Die Einstellung der ungarischen Bevölkerung zum Militär zeigt beispielhaft, was sie von ihrem Staat verlangt – nämlich einiges – und wie viel sie bereit ist, dafür zu geben – nämlich wenig. Balazs Trencsenyi ist Historiker an der Central European University (CEU), jene von George Soros finanzierte Universität, die Orbán vor einigen Jahren per Gesetz aus Ungarn gedrängt hat. Trencsenyi forscht zu politischem und kulturellem Denken in Ungarn und Ostmitteleuropa, und sagt verkürzt: Die Unwilligkeit der Ungarn, Zeit oder Geld in Form von Militärdienst oder Steuern an Gesellschaft oder Staat zu leisten, wurzelt in einer stillschweigend zwischen Bevölkerung und kommunistischer Regierung getroffenen Vereinbarung: Lässt du mich in Ruh, dann lass ich dich in Ruh. Der Staatsapparat war stets auf eine starke Führungsperson ausgerichtet, das Vertrauen in Institutionen nie groß. Balazs Trencsenyi / Central European University Der Staat schaute weg "Nach dem Aufstand 1956 gegen die Sowjetunion hat der kommunistische Staat erkannt, dass die Androhung von Terror und Repression als Wirtschaftsstimulation nicht mehr funktioniert. Stattdessen wurden Lockerungen hingenommen und der Bevölkerung ermöglicht, bescheidenen, privatwirtschaftlichen Handel zu betreiben“, sagt Trencsenyi. Der sogenannte "Gulaschkommunismus“ war geboren. Bauern durften einen Teil der Felder, für die sie zuständig waren, selbst bestellen und die Ernte verkaufen; Fabrikarbeiter nach ihrer Schicht für den privaten Verkauf produzieren – sodass viele Arbeiter während ihrer eigentlichen Arbeitszeit ihre Produktivität zurückfuhren, ihren Lohn erhielten sie schließlich trotzdem. Die Folge: "Eine Schwächung des Staatsapparats und ein ausbleibendes Wirtschaftswachstum, während der Normalbürger das Gefühl hatte, dass Staat und Leben funktionierten und gut waren.“ Die Ungarn waren stolz auf ihre Art des Überlebens. Im Vergleich zu anderen sozialistischen Ländern wie der DDR oder der Tschechoslowakei war das Wohlstandsniveau in Ungarn in den 60er- und 70er-Jahren höher, sagt Trencsenyi. Das lässt sich auch an den steigenden Fällen von Herzkrankheiten ablesen, zurückzuführen auf den höheren Konsum von Fleisch: Mit höherem Einkommen konnte man sich die Kuh oder das Schwein am Teller täglich leisten. In Ungarn sorgten diese "Freiheiten“ im Vergleich zum repressiven Stalinismus für ein Gefühl des Optimismus . Dass Ungarn langfristig dieses Wohlstandsniveau nicht halten konnte, dafür wurden erst die Technokraten der ehemaligen Kommunisten, die Mitte der 90ern an die Macht zurückkehrten, dann die EU verantwortlich gemacht: Industrien wurden aufgrund ihrer mangelnden Wettbewerbsfähigkeit mit westeuropäischen Unternehmen geschlossen oder von ihnen geschluckt, oder landeten in den Händen derer, die die finanziellen Mittel hatten, um sie zu kaufen. "Diese Entwicklung delegitimierte den Staat für viele Menschen“, sagt Trencsenyi. APA/AFP/ATTILA KISBENEDEK Heuer waren die Ungarn besonders oft auf der Straße, etwa um gegen die Vertuschung von Gewalt in Kinderheimen zu demonstrieren, oder gegen die "unrechtmäßige" Nutzung von EU-Geldern. Anti-Kommunist Orbán Einer, der diese Enttäuschung für sich zu nutzen wusste, war Viktor Orbán, der sich sowohl als liberaler Reformer in den 90ern als auch als Nationalkonservativer stets von den vor allem post-kommunistischen Technokraten distanzierte. In den 90er-Jahren wurde der Staat besonders geschwächt – die EU machte Druck, Unternehmen zu privatisieren und die Wirtschaft zu deregulieren, die neuen Parteien folgten dem wirtschaftsliberalen Narrativ. Selten sei der Staat stärker gewesen als jetzt, unter Orbán, sagt Trencsenyi überraschenderweise, und das sei vor allem der EU zu verdanken: "Die Fördergelder der EU gingen an den Staat, der die Verteilung übernahm. Das stärkte den Staatsapparat unter Orbán.“ Was dieser nicht gern zugibt, auch um sich von seinen post-kommunistischen Vorgängern zu distanzieren. Öffentliche Aufträge bekommen heute häufig befreundete Privatunternehmen, zusätzlich werden mit Gesetzen Monopolen in bestimmten Sektoren geschaffen. Wovon Orbán noch profitiert: der langen Tradition starker Führungspersonen an der Staatsspitze . Ob während der Monarchie oder dem stark personalisierten Kommunismus: Der Staatsapparat war immer auf eine Führungsperson ausgerichtet. "Franz Joseph I., Horthy, Rákosi, Kádár. Institutionelles Vertrauen war in Ungarn nie stark verbreitet.“ "Orbán könnte den Rechtsstaat abbauen, ohne auf großen Widerstand in der Bevölkerung zu stoßen“, sagt Trencsenyi – die EU wirft das Ungarn seit Jahren vor und hält deswegen Unterstützung in Milliardenhöhe zurück. Der "ewige Verlierer“ Doch gegen fremde Einflussnahme verteidigten die Ungarn ihren Parlamentarismus stets vehement. Nach wie vor sieht man sich als "ewiger Verlierer“, tief sitzt das historische Trauma der Fremdbestimmung – von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges, die Gebietsabtretungen vorschrieben, bis zur Sowjetunion . Heute ist in Orbáns Augen die EU die äußere, Ungarn feindlich gesinnte Macht. Überraschend ist, dass die Zustimmungswerte zur EU in Ungarn darunter trotzdem nicht überdurchschnittlich leiden. In der Eurobarometer-Erhebung im Frühjahr gaben 75 Prozent der Befragten an, Ungarn würde von der EU profitieren – zwei Prozentpunkte mehr als die EU-weite, durchschnittliche Zustimmungsrate. Das ewige Narrativ des äußeren Feindes, der die Schuld trägt an den inneren Missständen, es verliert an Zugkraft. 2026 trifft Orbán bei der Parlamentswahl auf den ersten, ernstzunehmenden Gegenkandidaten seit Langem: Péter Magyar weiß sich wie Orbán als starker Mann an der Spitze der Opposition zu inszenieren. Gleichzeitig hat er sich den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben, und sammelt damit Hunderttausende Ungarn hinter sich. Die Autorin beobachtet leidenschaftlich gern die politischen Spiele in Ungarn. Auf die kommenden Parlamentswahlen würde sie trotzdem keine Wetten abschließen.