Von Ulrich Ladurner aus Rom Im Jahr 1923 veröffentlichte der Schriftsteller und Journalist Giuseppe Prezzolini einen Essay mit dem Titel: „Kodex des italienischen Lebens“. Darin heißt es unter Punkt 1. Die Bürger Italiens teilen sich in zwei Gruppen ein: Die Dummen und die Schlauen (…) Punkt 9. Pflicht: Das ist das Wort, das in den weihevollen Reden der Schlauen immer dann auftaucht, wenn sie wollen, dass die Dummen für sie marschieren. Jetzt, da in Europa Russlands Krieg gegen die Ukraine tobt, europäische Armeen aufrüsten und in Deutschland wieder von Wehrpflicht die Rede ist, stellt sich auch die Frage, welches Verhältnis die Italiener zum Staat haben. Wobei man diese Frage etwas genauer fassen muss. Nämlich, welches Verhältnis haben die Italiener zueinander? Denn es geht im Kern ja darum, ob eine bestimmte Gruppe von Italienern bereit ist, ihr Leben zu riskieren, um eine andere Gruppe von Italienern vor einem Aggressor zu schützen. Womit wir wieder bei Prezzolinis Befund wären, bei den Dummen und den Schlauen . Vermutlich würden viele Italiener Prezzolinis fast hundert Jahre alten, scharfzüngigen Beschreibung ihres Charakters auch heute noch zustimmen, allerdings hinter vorgehaltener Hand. Denn welches Volk würde schon öffentlich zugeben, dass es so sei, wie Prezzolini es beschreibt, der eine Teil zynisch und der andere Teil naiv? EPA/FABIO FRUSTACI Rechte Regierungschefin Giorgia Meloni und Finanzminister Giorgetti: Steuerhinterziehung bleibt in Italien ein großes Problem. Das Hohelied der Nation Wer sich diese Behauptung heute zu eigen machte, würde wohl auf aggressive Abwehr stoßen. Denn das Land wird seit drei Jahren von Giorgia Meloni regiert. Die Nationalistin Meloni, die ihre politischen Wurzeln im Neofaschismus hat, singt täglich das Hohelied der italienischen Nation. Seit sie an der Regierung ist, wird Italien wieder ernst genommen. Das behauptet sie immer wieder. Italien könne sich auf der internationalen Bühne endlich wieder erhobenen Hauptes sehen lassen. Wer in diesen Regierungsjubel nicht einstimmt, fällt unangenehm auf, der kann schnell in den üblen Verdacht geraten, unpatriotisch zu sein. Eine Schrift wie jene von Prezzolini käme heute als Hetzschrift rüber, wobei das im Jahr ihres Erscheinens nicht anders gewesen sein dürfte: 1923. Ein Jahr zuvor hatte der Urfaschist Benito Mussolini die Macht an sich gerissen. Sein nationalistischer Furor war weit extremer als der Melonis je sein könnte. Doch vielleicht ist es besser, sich nicht zu sehr mit der Gefühlslage der Italiener aufzuhalten, sondern nach Fakten zu fragen. Zum Beispiel: Wie viele Italiener würden heute für ihr Land kämpfen ? Die Antwort: 14 Prozent. Damit liegen sie nach dem Security Radar der Deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung europaweit auf dem letzten Platz. Für den Staat – sprich: für den Nachbarn - sein Leben riskieren? Nein, das ist entschieden nicht populär unter den Italienern. Da kann die Regierung Meloni noch so lobende Worte über das eigene Volk finden, in den Schützengraben will kaum einer. Um Prezzolinis Rede aufzugreifen: Wenn die Schlauen Pflicht rufen, marschieren die Dummen nicht. Dafür sind die Dummen doch zu schlau. Die mangelnde Opferbereitschaft hat natürlich etwas mit dem Vertrauen in die Fähigkeiten des eigenen Staates zu tun. Nur 19 Prozent der Italiener glauben, dass Italien sich verteidigen kann, wenn es von Russland angegriffen wird. Andererseits ist das für Italiener eine sehr hypothetische Frage. Denn nach derselben Umfrage aus dem Jahr 2024 antworten die Italiener auf die Frage, ob sie sich bedroht fühlen, zu 45 Prozent mit: Nein und zu 37 Prozent mit: Ich weiß nicht, nur 8 Prozent fühlen sich von Russland bedroht. Die Ursache für diesen doch erstaunlichen Befund ist gewiss auch in der Geografie zu suchen. Russland ist nun einmal weit weg. Wenn die Italiener sich schon mit Kriegen auseinandersetzen müssen, dann gibt es andere, die viel näher an der italienischen Küste liegen. Libyen etwa ist seit dem gewaltsamen Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi ein permanenter Unruheherd und gleichzeitig Sprungbrett für die vielen Tausenden Migranten und Flüchtlinge, die nach Italien übersetzen. Ein Freund Berlusconis Außerdem: Der russische Präsident Wladimir Putin war doch ein dicker Freund des langjährigen, inzwischen verstorbenen italienischen Premierministers Silvio Berlusconi. Anfang des Jahrtausends war Putin mehrmals in der Berlusconis Villa Certosa auf Sardinien zu Gast. Berlusconi gehört in Prezzolinis Diktion sicher zu den Schlauen. Er wusste, dass es lohnend sein kann, einen russischen Präsidenten zum Freund zu haben. Was es bedeutet, ihn zum Feind zu haben, das erfahren die Ukrainer seit vier Jahren. Diese Erfahrung möchten die Italiener sicher nicht machen. Der Krieg in der Ukraine ist also sehr weit weg für die Italiener, und ihr eigener Staat freilich auch. Er wird als fern wahrgenommen, als räuberisch, so räuberisch, dass man sich dagegen mitunter mittels Steuerhinterziehung zur Wehr setzen muss. Bettino Craxi, langjähriger Ministerpräsident der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, war sich dessen bewusst und nutzte es zu einer dialektischen Volte. Er schrieb in seiner Parteizeitung viel beachtete Kolumnen und zeichnete sie mit dem Pseudonym Ghino Tacco. Der war ein Ritter aus dem 13. Jahrhundert in der Toskana, ein Robin Hood, der die Reichen bestahl, um den Armen zu geben. Der Ministerpräsident eines gefühlt räuberischen Staates, der sich selbst als Räuber inszeniert, der dem beraubten Volk Gutes tut – eine italienische Geschichte. Privat Journalist und Autor Ulrich Ladurner