François Ozon über "Der Fremde" von Camus: "Wollte eigentlich etwas ganz anderes machen"

Fast jeder Gymnasiast hat (in der Schule) den Roman „Der Fremde“ von Albert Camus gelesen. Erschienen 1942, beginnt er mit dem berühmten Satz: „Heute ist Mama gestorben. Oder vielleicht gestern, ich weiß es nicht.“ In lakonischem Tonfall erzählt Camus in seinem Meilenstein des Existenzialismus von dem Franzosen Meursault, der in Algier lebt und einen arabischen Mann tötet. Dafür wird er verurteilt, aber auch deswegen, weil er den sozialen Gepflogenheiten nicht entspricht – und beispielsweise beim Begräbnis seiner Mutter nicht geweint hat. Der französische Regisseur François Ozon in einem Round-Table-Gespräch mit dem KURIER und anderen Medien über seine formschöne Verfilmung „Der Fremde“ (ab Donnerstag im Kino) und das Rätsel seiner Hauptfigur. Monsieur Ozon, warum dieser Griff nach einem Klassiker der Schullektüre? François Ozon: Eigentlich wollte ich einen ganz anderen Film machen. Er sollte von einem jungen Mann handeln, der mit der Absurdität unserer heutigen Welt, in der wir leben, nicht mehr zurechtkommt und seinen Selbstmord plant. Leider hat sich kein Geldgeber dafür interessiert und ich musste das Projekt aufgeben. Dann habe ich „Der Fremde“ von Camus noch einmal gelesen und festgestellt, dass es sehr viel mit unserer heutigen Zeit zu tun hat. Und so habe ich mich entschlossen, es zu adaptieren. Ich habe das Buch natürlich als Teenager in der Schule gelesen, wie alle französischen Schüler, und ich hatte eine vage Erinnerung daran – an den ersten Satz des Romans und an die Mordszene am Strand. Aber das war’s. REUTERS/Yara Nardi Regisseur François Ozon hat als Teenager „Der Fremde“ gelesen. Benjamin Voisin spielt die Rolle des rätselhaften Meursault – keine leichte Aufgabe. Benjamin Voisin ist ein komplett anderer Typ als Meursault. Er musste diese Rolle sehr distanziert und mit einer inneren Haltung spielen, die wir nicht wirklich begreifen können. Und er musste das Geheimnis der Figur bewahren, ohne zu versuchen, ihre Psychologie zu verstehen – entgegen dem heutigen Trend, jede Person überpsychologisieren zu wollen. Ich habe ihm „Notizen zum Kinematographen“ des französischen Regisseurs Robert Bresson zu lesen gegeben, in denen er die Aufgabe eines Schauspielers beschreibt: Er soll wie ein leeres Blatt Papier sein, ohne Emotion und ohne Psychologie. Und er soll mit einer Kälte spielen, die für diesen Film notwendig war. Im Originaltext von Camus bleibt der getötete, arabische Mann unbekannt, Sie aber geben ihm einen Namen. Mir war es sehr wichtig, die Perspektive von 1942 mit unserer Gegenwart abzugleichen. Wenn Camus „der Araber“ schreibt, meint er das nicht rassistisch, sondern steht in der Tradition der amerikanischen Detektivgeschichte und ihrer archetypischen Figuren. Sein Roman ist eine Mischung aus True Crime, Detektiv-Story und französischem Existenzialismus. Es gibt übrigens ein sehr gutes Buch von Kamel Daoud namens „Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung“ und ist aus der Perspektive des Bruders des Getöteten erzählt. Filmladen Benjamin Voisin als Meursault in "Der Fremde". Sie beginnen Ihren Film mit einer Art Tourismuswerbung, in der das Leben in Algier als idyllisch und modern dargestellt wird. Aber nur auf den ersten Blick, oder? Mir war es sehr wichtig, den Kontext herzustellen. Algerien war ja bis 1962 französische Kolonie, und das Leben von Franzosen und Algeriern strikt getrennt. Es gab keine gemeinsamen Schulen, Franzosen sprachen kein Arabisch, im Bus saß man getrennt. Als ich meinen Entwurf zu dem Projekt schrieb, habe ich das Wort Apartheid verwendet. Manche Franzosen streiten das ab, aber es war ein System von Apartheid. Eine zentrale Frage der Erzählung lautet: Warum hat Meursault diesen Mord begangen? Sind Sie der Antwort näher gekommen? Ich habe vieles bis heute nicht verstanden und mich von den Emotionen, die ich beim Lesen hatte, leiten lassen. Wenn Meursault am Ende darüber nachdenkt, welches Leben er hätte leben können, berührt mich das sehr – wie viele Tausende Teenager vor mir. Der Roman handelt davon, welche Beziehung wir zur Welt und zu anderen Menschen haben – oder eben nicht haben. Und ich glaube, wir alle sind irgendwann einmal in unserem Leben Meursault und können – so wie er – beim Begräbnis unserer Mutter oder eines nahen Menschen nicht weinen. Ich verstehe das total. Gefühle brauchen ihre Zeit, um an die Oberfläche zu gelangen.