Das Pärchen im Scheinwerferlicht erstarrt. Geblendet blicken die beiden Kängurus aus unschuldigen Zwergkaninchen-Augen in Richtung des Riesengefährts, das langsam auf sie zurollt. Eben noch hatten sie sich unbeobachtet gewähnt auf ihrem Inselausflug im nächtlichen Nirgendwo. Selbst als der Geländewagen nur wenige Meter von ihnen entfernt ist, haben die kleinen Beuteltiere mit dem mausbraunen, auffallend dicken Pelz anscheinend noch immer keine potentielle Gefahrenquelle ausgemacht. Will Wardle hat rasch den Fuß vom Gaspedal genommen, als er die beiden in der Dunkelheit entdeckt hat. „Rufous Hare-Wallabies“, sagt der Australier, auf Deutsch: Zottel-Hasenkängurus. „Ihr Verhalten ist ganz typisch“, erklärt der 22-jährige Fotograf und Dokumentarfilmer, „Sie verharren einfach in Starrhaltung. Auf eine nächtliche Begegnung scheinen sie nicht vorbereitet.“ Die kleinen Kängurus sind nicht nur äußerst niedlich, sie gehören auch zu den seltensten Beuteltieren Australiens. „Nur hier und auf ein paar anderen Inselchen und Schutzgebieten kann man ihnen heute noch begegnen“, sagt Wardle. Win Schumacher Barfuß oder im Geländewagen: Wer mit Will Wardle die westaustralische Insel Wirruwana erkundet, kann viel erleben. Dirk Hartog oder Wirruwana, wie die Ureinwohner die größte Insel vor der westaustralischen Korallenküste nennen, ist in den letzten Jahren nicht nur für rare Kängurus zum Zufluchtsort geworden. „Als ich ein Kind war, gab es auf der ganzen Insel keine Beuteltiere mehr“, sagt Wardle, während er seinen Geländewagen weiter über die Sandpisten der nächtlichen Insel steuert, „jetzt aber sehen wir immer mehr von ihnen, vor allem in der Nacht. Es ist aufregend, mitzuerleben, wie sich dieser Ort gerade verändert“. Leichte Beute Weil hier vor der europäischen Besiedlung Australiens nur wenige Raubtiere lebten, die den Zottelkängurus und anderen kleinen Beuteltieren gefährlich werden konnten, bedeutete die Ankunft der Europäer und der von ihnen eingeführten Tiere für viele einheimische Arten eine Katastrophe. Vor allem für Katzen, Füchse und Marder waren die Kleinbeutler leichte Beute. Zudem wurden Wildkaninchen und Weidetiere zu ernsthaften Nahrungskonkurrenten und zerstörten ihren Lebensraum. Auch Wirruwana verlor einen großen Teil der Tierarten, die die europäischen Seefahrer hier im 17. Jahrhundert vorfanden. Grafik 1616 wurde die Insel von dem Niederländer Dirk Hartog entdeckt und nach ihm benannt. Er war der zweite Europäer überhaupt, der hier australischen Boden betrat. Zwar wurde die Insel erst viel später für mehrere Schaffarmen erschlossen, infolgedessen war die Tierwelt jedoch bereits nach Jahrzehnten stark dezimiert und zehn der einst hier einheimischen Landsäuger bald ausgerottet. Bereits seit 1991 gehört Wirruwana um Welterbe Shark Bay. 2009 wurde die Insel zum Nationalpark erklärt und anschließend das Arche-Noah-Projekt „Return to 1616„ ins Leben gerufen. Zum Schutz der einheimischen Fauna und Flora wurden auf der größten Insel Westaustraliens bis 2017 Tausende Schafe und Ziegen ausgeschifft oder erlegt. Bis 2018 waren auch sämtliche verwilderte Katzen ausgerottet. Neun Tierarten wurden wieder angesiedelt Inzwischen wurden wieder neun der Tierarten angesiedelt, die vormals auf der Insel zuhause waren, darunter der Streifen-Langnasenbeutler, das Bürstenschwanz-Rattenkänguru, die Sprenkelbeutelmaus und der Strichelgrasschlüpfer, ein äußerst seltener Singvogel aus der Familie der Staffelschwänze. Als letzte Art soll schon bald der Schwarzschwanz-Beutelmarder folgen. Vor Ankunft der Europäer stand der Kleinräuber auf Dirk Hartog am Ende der Nahrungskette. Wenn er zurückkehrt, schließt sich wieder ein seit Jahrhunderten unterbrochener Kreislauf. „Schon jetzt kann man selbst auf Google Earth sehen, wie sich die Vegetation verändert hat, seit die Schafe weg sind“, sagt Wardle, „bald schon wird sich die Insel auch im Kleinen wieder mit Leben füllen.“ Da hoppelt was im Dunklen Nach einigen Minuten hoppelt das Känguru-Duo zum Wegrand und verschwindet langsam im Gebüsch. Die Sterne stehen noch immer tief und funkelnd über den Dünen, als Will Wardle wieder den Motor seines Geländewagens startet. Noch immer ist es gänzlich still auf de Insel. Erst in ein paar Stunden wird das Pfeifen der Honigfresser, das Kreischen der Möwen und der Ruf des Fischadlers wieder nach Wirruwana zurückkehren. Wardle ist heute bereits in den frühen Morgenstunden aufgebrochen, denn er möchte am anderen Ende der Insel ein besonderes Schauspiel festhalten. Um diese Jahreszeit schlüpfen vor Sonnenaufgang in einer Bucht bisweilen hunderte Meeresschildkröten auf einmal. Vom Süden Wirruwanas bis Turtle Bay im Norden sind es mindestens drei Stunden auf den Sandpisten der etwa 80 Kilometer langen Insel. Asphaltstraßen gibt es hier nicht. Durch Scheinwerferlicht huscht ein kaninchengroßes Fellknäuel. Große Häschenratten sind kleiner, aber nicht weniger possierlich als die Zottelkängurus. Leider sind auch sie heute genauso selten. Einst waren sie wie diese in weiten Teilen Süd- und Westaustraliens verbreitet, haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber einzig auf einzelnen Inselchen überlebt. Ihr nächster Verwandter, die Kleine Häschenratte, verschwand sehr wahrscheinlich bereits Mitte des letzten Jahrhunderts. 2016 wurde sie von der Weltnaturschutzunion für ausgestorben erklärt. Die Australier wollen jedoch nicht hinnehmen, dass das Artensterben auf ihrem Kontinent unweigerlich weitergeht. „Schon mein Urgroßvater, der die Insel 1969 kaufte, hatte versucht, hier wieder Wallabies anzusiedeln“, sagt Wardle, „er interessierte sich schon damals für Naturschutz“. Die Wiederansiedlung von einst hier heimischen Arten, gelang jedoch erstmals langfristig, als Wardles Eltern Kieran und Tory entschieden, die Schaffarm der Familie aufzugeben, in Zusammenarbeit mit westaustralischen Naturschützern und Behörden auf der Insel die vormalige Biodiversität wiederherzustellen und den Ökotourismus zu fördern. Der Weg für das „Return to 1616“-Projekt war geebnet. „Ich bin hier fernab aller Hektik und meist barfuß aufgewachsen“ Die Wardles führen heute die Dirk Hartog Eco Lodge, die einzige Unterkunft auf Wirruwana. Camping ist auch auf ausgewiesenen Stellplätzen möglich, jedoch dürfen nie mehr als 20 Allrad-Fahrzeuge gleichzeitig auf der 630 Quadratkilometer großen Insel unterwegs sein. „Ich bin hier fernab aller Hektik und meist barfuß aufgewachsen“, erzählt Will Wardle. „Als ich später in Perth auf einem Internat war, zog ich manchmal die Schuhe unter der Schulbank aus.“ Bereits als Teenager entdeckte er das Fotografieren und Filmen als seine Berufung und hält seither seine Heimat in Natur- und Landschaftsaufnahmen fest. Daneben unterstützt er Film-Teams, die regelmäßig für Wildlife-Dokumentationen nach Westaustralien kommen. Mit seiner Arbeit möche er auch einen Beitrag leisten, um die bedrohte Tierwelt Westaustraliens über das Land hinaus bekannt zu machen. Wirruwana und die umliegenden Riffe und Seegraswiesen im Shark-Bay-Meeresnationalpark sind auch ein wichtiger Rückzugsort für bedrohte Meeresbewohner wie Wale, Delfine, Meeresschildkröten, Mantarochen, 28 Hai- und mehr als 300 Fischarten. Bekannt ist die Region auch für eine der weltweit bedeutendsten Populationen der Gabelschwanzseekühe. Mehr als 10.000 Dugongs sollen hier leben. Kaum irgendwo sonst stehen die Chancen so gut, gleich mehrere der anderswo vom Aussterben bedrohten Meerestierarten zu beobachten. Als Wardle Turtle Bay erreicht, geht gerade die Sonne über dem Meer auf. Die Strandbucht ist menschenleer, jedoch haben sich bereits Schwärme von Möwen, Seeschwalben und Elsterscharben eingefunden. Einige von ihnen sind wohl gekommen, um den frischgeschlüpften Karrettschildkröten nachzustellen. Der Sand ist von den Spuren der Winzlinge übersät. Etliche haben es wohl nicht bis in den rettenden Ozean geschafft. Zwei Nachzüglern verhilft Wardle noch aus ihrem Nest, indem er den Sand behutsam zur Seite gräbt und die Kleinen begleitet, bis sie eilig über den Sand gerobbt und in den Meereswellen verschwunden sind. „Hoffentlich werden sie irgendwann hierher zurückkommen und ihre eigenen Eier legen“. „Die Natur ist nicht tot, sie schläft nur“, sagt Darren Capewell „Das Land war lange krank, aber es wird langsam wieder gesund.“ Der Aboriginal Guide steht auf einer Klippe auf Wulyibidi, der Péron-Halbinsel, die wie die riesige Kralle eines Urzeitreptils in die mehr als 10.000 Quadratkilometer große Shark Bay greift. Wirruwana ist durch einen Meerarm mit Sandbänken und Seegraswiesen von ihr getrennt. Zu Capewells Füssen fällt das eisenrote Gestein in einem schroffen Farbkontrast ins leuchtende Türkis des Ozeans ab. „Wir Malgana nennen diesen Ort Gutharraguda“, sagt der 54-Jährige, „Ort der zwei Wasser. Hier treffen sich die Energien der Wüste und des Ozeans“. Capewell führt seit vielen Jahren Touristen durch den François-Péron-Nationalpark und über die Insel Wirruwana. Seine Touren im Geländewagen, zu Fuß und im Kayak ermöglichen Urlaubern eine einzigartige Perspektive auf die Kultur der ersten Bewohner der Region und ihre enge Verbindung zur Natur. Win Schumacher Darren Capewell, Aboriginal Guide Capewell spricht mit Tieren und selbst mit Büschen, als seinen sie Freunde. Betritt er die Halbwüste der Peron-Halbinsel, ruft er einen Willkommensgruß in der Sprache der Malgana aus. „Ich frage das Land nach seinem Wohlbefinden und bitte es, uns willkommen zu heißen“, erklärt er. „Die Malgana und Nhanda sind seit mehr als 30.000 Jahren Hüter dieses Landes“. Als er in den Nationalpark fährt, muss der Guide zunächst einmal Luft aus seinem Geländewagen ablassen, um nicht im Sand stecken zu bleiben. Auf seinem Weg nach Norden hält der Guide immer wieder an. Er erzählt von den Mythen der Malgana, von Riesen, die hier einst Fußspuren hinterlassen haben sollen, in denen nun bonsaiähnliche Bäumchen wachsen, die mehr als 400 Jahre alt sein sollen. Er erklärt die Spuren von Emus und Dornteufeln, archaisch anmutenden Echsen. Sie sollen einst mit ihrem drachenähnlichen Äußeren bestraft worden sein, weil sie den Wert des Wassers nicht achteten. Capewell erklärt gerne über essbare Pflanzen und solche, denen Heilwirkung zugeschrieben wird. Es ist die Kunst der Malgana, in der Wüste, im scheinbaren Nichts, Wasser und Essbares zu finden. „Die Natur gibt uns alles, was wir zum Leben brauchen“, sagt der Guide. Seit dreißig Jahren läuft das "Projekt Eden" Auf Wulyibidi wurde bereits 1995 das „Projekt Eden“ gegründet. Nach Aufgabe der letzten von einst sieben Schaffarmen wurde ein Teil der Halbinsel mit einem Elektrozaun vom Festland abgetrennt. Auch hier wurden invasive Arten ausgerottet und einheimische Tiere angesiedelt. „Man kann jetzt schon mit eigenen Augen sehen, wie die Wildnis zurückkehrt und dass hier etwa wieder mehr Geckos und Ameisenigel leben.“ Auch wenn sich einige der sechs wiedereingeführten Arten wie Kaninchennasenbeutler, Bürstenschwanz-Rattenkägurus und die für Ihr außergewöhnliches Brutverhalten bekannten Thermometerhühner nur selten beobachten lassen, locken die Neuankömmlinge immer mehr Touristen in den Nationalpark. „Wir möchten, dass die Menschen, die hierherkommen, die Natur nicht nur erleben, sondern sie auch fühlen und verstehen“, sagt Capewell. „Es ist wichtig, dass gerade junge Australier neu ihren Wert erkennen“. Dass im letzten Jahr das „Referendum über die Stimme der australischen Ureinwohner“, das ihnen mehr politischen Einfluss in eigenen Belangen geben sollte, von einer Mehrheit der Australier abgelehnt wurde, hat ihn traurig gestimmt, aber nicht entmutigt. „Wir haben eine Schlacht verloren, aber nicht unseren Kampf“, sagt Capewell. Der Guide führt regelmäßig auch Gruppen von Schulkindern und Jugendlichen durch Wulyibidi und Wirruwana. Manchmal übernachtet er mit ihnen in der Wildnis und bringt ihnen am nächtlichen Lagerfeuer mit Didgeridoo-Klängen und uralten Legenden die Welt seiner Ahnen nahe. Er beobachtet wie gerade junge Menschen eine Rückkehr zu den Wurzeln Australiens suchen. „Wie die Natur, ist auch die Kultur der Ureinwohner nicht tot. Wir sehen überall, wie das Interesse an unserer Geschichte und unserer Kunst wieder auflebt.“