Von Susanne Zobl Drei, manchmal auch bis zu fünf Stunden Geige üben, acht Stunden Partituren studieren und das täglich. Oft erst gegen drei oder vier Uhr nachts endet der Arbeitstag für Julian Rachlin in diesen Wochen. Denn der Violin-Virtuose ist seit einigen Jahren als Dirigent so gefragt wie als Geiger. Seit 2023 ist der 50-jährige Chefdirigent des Jerusalem Symphony Orchestra und des norwegischen Kristiansand Symphonieorchesters. „Man muss die Partituren so studieren, dass man sie eigentlich auswendig kennt“, beschreibt der Universalmusiker seine Arbeit im KURIER-Gespräch. Vor fünf Jahren übernahm er die künstlerische Leitung des erlesenen Festivals Herbstgold auf Schloss Esterházy in Eisenstadt. Festspielwürdig ist die Besetzung der aktuellen Ausgabe (10. Bis 21.9.). Die Geigerin Janine Jansen, der Bariton André Schuen, Hollywood-Legende John Malkovich und der Pianist András Schiff sind Teil davon. Rachlin selbst wird viermal auftreten. Zur Eröffnung dirigiert er das Chamber Orchestra of Europe. Sein Solist ist kein geringerer als der Pianist András Schiff. Mit ihm wird er auch Beethovens fordernde „Kreutzer-Sonate“ in einer Matinee (14.9.) aufführen. Damit erfülle er sich einen Kindheitstraum, merkt Rachlin an. Dieses Konzert sowie die Eröffnung sind längst ausverkauft. Geschichte pur Ein Festival zwischen dem ausklingenden Sommer, das heißt für das klassikbegeisterte Publikum zwischen den Salzburger Festspielen und der beginnenden Spielzeit in Wien zu etablieren, ist keine geringe Herausforderung. Dennoch hat Rachlin Herbstgold in der Branche zu einer Marke gemacht. „Wir bieten Geschichte pur. Franz Liszt hat im Schloss bereits in jüngsten Jahren gespielt“, führt der künstlerische Leiter aus. Das Publikum sei international, besonders viele kommen aus Großbritannien, beschreibt er seine Klientel. „Die Engländer lieben das Festival“. Denn Haydn sei in England ungebrochen beliebt. Der nach ihm benannte Saal im Schloss Esterházy, wo Haydn Kapellmeister der Fürsten war, sei eine zusätzliche Attraktivität. Zurecht, wissen Kenner. Denn dessen Akustik ist tatsächlich phänomenal und damit ein exzellentes Ambiente auch für die kleine Form, wie etwa das Lied. Für Freunde dieses Genres ist der Liederabend von André Schuen (19.9.) ein unverzichtbarer Termin. Schuberts „Winterreise“ wird er mit Daniel Heide am Klavier aufführen. „So eine Bariton-Stimme in ihrem Kernrepertoire in diesem Saal, hört man nicht alle Tage“, schwärmt Rachlin. Kern aller Musik Eine der „Perlen“ im Programm werden Freunde der Kammermusik, die Rachlin den „Kern aller Musik“ nennt, am 14.9. finden. Ein Ensemble aus sechs Solisten, Boris Brovtsyn, Mohamed Hiber (Violine) Sarah McElravy, Adrian La Marca (Bratsche), Andreas Brantelid, Torleif Thedeen (Cello) wird Brahms’ 1. Sextett in B-Dur aufführen und Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“. Dieses magisch klingende, spätromantische Frühwerk führe zum Motto des Festivals „Ekstase“. Rachlin fügt hinzu: „Mit Zwölftonmusik, die Schönberg erst später erfunden hat, hat dieses Werk nichts zu tun“. Warum spielt er nicht selbst mit? Weil er selbst mit seinen vier Auftritten genug ausgelastet sei, und das als Dirigent und als Geiger. Mit seinem norwegischen Klangkörper führt Rachlin Dvoraks „Neunte“, „Aus der Neuen Welt“ auf und präsentiert bei Griegs Klavierkonzert in a-Moll die Schülerin des Meisterpianisten Grigory Sokolov, Alexandra Dowgan (20.9.). Ein Boykott Zuvor lässt er mit BBC Philharmonic Brahms’ „Vierte“ und Dvoraks Cello-Konzert mit Jean Guihen Queyras als Solisten hören. Mit dem britischen Klangkörper pflege er derzeit ein ganz besonderes Verhältnis, sagt Rachlin. Denn mit diesem Orchester spielt er gerade sämtliche Symphonien von Brahms ein, erzählt er und lobt die Musizierfreude und die Neugier dieses Klangkörpers. „Beim Dirigieren ist es wie bei Beziehungen. Die Chemie muss stimmen, man weiß nicht, warum das so ist, aber das ist eines der Mysterien dieses Berufes.“ Eins noch: Vor wenigen Monaten triumphierte Rachlin mit seinem Jerusalem Orchestra im Konzerthaus, warum kommen die jetzt nicht nach Eisenstadt? Lässt der Krieg in Gaza das Reisen nicht zu? „Die große England-Tour wurde wegen eines Israel-Boykotts tatsächlich abgesagt“, sagt Rachlin. Was Österreich anbelangt, beruhigt er, auch für Eisenstadt und Wien gebe es bereits Pläne für die nächsten Jahre. Weitergespielt wird aber auch in diesen unruhigen Zeiten. „Derzeit arbeiten wir an verschiedenen CD-Projekten mit Tschaikowsky 4., 5., und 6. Symphonie, Mahlers „Erster“ und einer Aufnahme von muslimischen, katholischen und jüdischen Gebeten. Denn wir stehen wie Jerusalem nicht für Ausgrenzung sondern für Vereinigung.“